Im Sommer der Sturme
besuchen kann …«
Gegen Tränen war Paul auch nicht immun, doch er verdeckte seine feuchten Augen, indem er sich die Stirn rieb.
»Außerdem wollen sie nichts essen, und ich weiß nicht recht, was ich machen soll.«
»Gar nichts, Charmaine. Lassen Sie ihnen Zeit. Sie müssen einfach eine Weile traurig sein dürfen.«
»Glauben Sie, dass Ihr Vater einen Besuch in seinen Räumen erlauben würde? Für die Kinder wäre es tröstlich, und für ihn vermutlich auch.«
Der Vorschlag verwirrte Paul. »Ich glaube nicht. Seine Trauer ist einfach noch zu groß.«
Charmaine war mit der Antwort nicht zufrieden, aber sie drängte ihn auch nicht weiter. Sie war froh, dass sie überhaupt mit jemandem sprechen konnte. »Wenigstens sind Sie für die Kinder da.«
Er holte Luft. »Im Augenblick muss ich Sie allerdings enttäuschen … ich segle in der Morgendämmerung nach Espoir. Heute habe ich auf Charmantes für Ordnung gesorgt, aber nun werde ich dringend auf der anderen Insel gebraucht. Bis George zurückkommt, stehe ich furchtbar unter Druck. Das verstehen Sie doch, oder?«
»Ich verstehe nur, dass Sie uns wieder allein lassen«, platzte es aus ihr heraus.
»Das ist ein harter Satz«, sagte er und verzog innerlich das Gesicht. »Das Holz wurde geliefert und der Grund stein gelegt, und nun müssen wir das neue Haus noch fertig bekommen, bevor der Regen einsetzt. Ich habe einen Architekten und Zimmerleute engagiert, die nur einen Monat lang in der Karibik bleiben können. Außerdem bin ich dafür verantwortlich, dass die Männer endlich Arbeit bekommen.«
»Sie haben ja recht«, sagte Charmaine. »Es lenkt Sie auch ab, wenn Sie viel um die Ohren haben.«
Die mitfühlenden Worte berührten ihn tiefer als jeder Vorwurf. Er war hin- und hergerissen. »Ich verspreche, zum Wochenende zurückzukommen. Wir könnten dann einen Ausflug mit den Kindern machen und sie ein wenig ablenken.«
Charmaine rang sich ein Lächeln ab. »Das gefällt ihnen bestimmt.«
»Also gut, dann ist das hiermit verabredet.«
Das Wochenende kam, aber wer nicht kam, war Paul. Er schickte eine Nachricht, dass ihn eine »Katastrophe« auf Espoir festhielte und er im Lauf der nächsten Woche käme. Aber in der nächsten Woche war es dasselbe. Die Mädchen trauerten noch immer sehr und wären vermutlich sowieso nirgendwohin gegangen.
Sonntag, 30. April 1837
Inzwischen war Colette bereits drei Wochen tot, und die Stimmung im Haus hatte sich nicht gebessert. Jedenfalls nicht, was die Kinder betraf. Die »Verabredung« mit Paul, die seit Wochen geplant war, kam irgendwann zustande. Aber die Mädchen mochten keinen Ausflug machen und hatten nur verächtliche Bemerkungen dafür übrig.
»Wenn sie nicht wollen, sollten Sie die Mädchen auch nicht zwingen«, bemerkte Paul. Doch war er verärgert, weil er seine Pläne nur deshalb geändert hatte, um Zeit für die Kinder zu haben. Außerdem hatte ihm ein Streit mit seinem Vater schon früh am Morgen die Laune verdorben, sodass er inzwischen wünschte, er wäre nicht gekommen.
Am Ende ihrer Kräfte angekommen, beschloss Charmaine, den Mädchen ihren Willen zu lassen und zusammen mit Pierre Paul auf seiner Fahrt in die Stadt zu begleiten. Bis zur Abfahrt konnten die Mädchen ihren Entschluss noch ändern. Aber sie taten es nicht, und so winkte Rose dem Landauer nach, bevor sie die Mädchen den Nachmittag über unter ihre Fittiche nahm.
Im Gegensatz zu seinen Schwestern war Pierre glücklich. Da er nicht verstand, welches Unglück das Haus heimgesucht hatte, überschüttete er Charmaine mit all seiner Liebe, blies Nana Rose Küsschen zu und lehnte sich viel zu weit aus dem Fenster, um zu winken und lauthals »Bye-bye« zu rufen.
Während der geschlossene Wagen über die Straße rollte, herrschte in seinem Inneren keineswegs eine entspannte Atmosphäre. Mit mürrischem Gesicht starrte Paul aus dem Fenster und grübelte vor sich hin.
»Wie geht es Ihrem Vater?«, fragte Charmaine in die Stille hinein.
Paul schnaubte nur und massierte seinen Nacken. »Nicht gerade gut, fürchte ich. Er ist noch verzagter als meine Schwestern. Und heute habe ich alles vermutlich noch schlimmer gemacht.«
»Ich wüsste nicht, wie das möglich wäre. Die Kinder haben ihn seit der Beerdigung nicht mehr zu Gesicht bekommen. Sie haben also nicht nur die Mutter verloren, sondern auch noch ihren Vater.«
»Ich fürchte, das ist ein Irrtum, Charmaine. Es kann immer noch schlimmer kommen. Sehr viel schlimmer sogar. Mein Vater hat
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