Im Sommer der Sturme
war in dieser Zeit eher eine Belastung, und die Trostlosigkeit, die aus den Gesichtern der Mädchen sprach, wirkte sich inzwischen sogar auf Pierre aus, dem die Erinnerung an seine Mutter sehr viel bedeutete. Erst an diesem Abend hatten die Schwestern ihn grausam verspottet, als er aus Versehen »Mama« statt »Manie« gesagt hatte. Mit zitternder Unterlippe war er zu Charmaine gerannt und hatte heulend seinen Kopf in ihren Röcken versteckt.
Dies hatte das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht. »Dieses Getue hat jetzt lange genug gedauert«, hatte Charmaine geschimpft. »Seht nur, was ihr angerichtet habt. Ihr habt es geschafft, dass sich der kleine Kerl schuldig fühlt, nur weil er glücklich ist. Warum, um Himmels willen? Wie viel Leid wollt ihr eurer Mutter noch zufügen?«
»Mama leidet nicht mehr«, widersprach Yvette energisch, »aber wir schon.«
»Glaubst du das wirklich?«, fragte Charmaine. »Glaubst du wirklich, dass sie Ruhe und Frieden findet, wenn sie weiß, dass ihre Kinder ohne sie nicht glücklich sind? Wie kann sie überhaupt an den Himmel denken, solange ihr zwei sie hier auf der Erde festhaltet und euch in Selbstmitleid ergeht?«
Prompt begann Jeannette zu weinen. »Dürfen … wir sie denn gar nicht vermissen … und … gar nicht um sie weinen?«
Charmaines Gesicht wurde weich, doch ihre Stimme klang unverändert energisch. »Ihr weint nicht um eure Mutter. Ihr weint nur um euch selbst.«
»Was ist daran falsch?«, fragte Yvette.
»Gar nichts. Vor einem Monat hätte das auch jeder verstanden. Aber ihr heult schon viel zu lange. Und das viele Stunden am Tag. Ihr versucht nicht zu verstehen, dass der liebe Gott eure Mama zu sich ins Paradies geholt hat. Eigentlich sollte sie ihren Frieden finden und sich keine Sorgen mehr machen müssen. Aber ihr denkt nur an euch – nicht einmal an euren Bruder, euren Vater oder alle anderen hier im Haus. Die arme Mrs. Henderson ist so verzweifelt, dass ihr die Leckereien ablehnt, die sie nur für euch gekocht hat. Und erst Nana Rose! Sie kennt eure Mama länger, als ihr beide sie kennt. Habt ihr sie schon jemals in den Arm genommen? Oder euren Bruder Paul? Er hat seine Pläne verschoben, um einen Tag mit euch zu verbringen und euch zu trösten, aber ihr weist ihn zurück. Ich schäme mich für euch! Von mir will ich gar nicht reden. Aber habt ihr euch schon ein einziges Mal überlegt, wie schwer das ist, euch bei diesem Theater zuzuschauen?«
Sie seufzte. »Ich verstehe eure Trauer. Und ich weiß auch, dass ihr in den kommenden Wochen noch manchmal weinen werdet. Aber doch nicht so! Im Augenblick sind eure Tränen eine Last für uns alle. Wenn ihr eure Mutter glücklich machen wollt, dann trocknet eure Tränen und fangt endlich an zu leben! Ich bin sicher, dass sie – ganz gleich, wo ihr seid und wo ihr euch auch herumtreibt – euch vom Himmel aus zusieht, und ich bin überzeugt, dass sie euch lieber lächeln als weinen sieht.«
Stille. Zu Charmaines Überraschung erfolgte auch keine Widerrede.
Sie trat an Pierres Bettchen und freute sich, weil ihre Predigt wenigstens ihn in Schlaf gewiegt hatte. An der Tür blieb sie noch einmal stehen. »Mit Tränen bringt ihr eure Mutter nicht zurück«, sagte sie abschließend. »Ich wünschte, es wäre möglich, aber es geht nicht. Eure Mutter ist jetzt länger als einen Monat tot, und in dieser Zeit habt ihr ihre Seele gequält, wie die Krankheit zuvor ihren Körper gequält hat. Es ist an der Zeit, dass ihr beweist, wie sehr ihr sie wirklich liebt.«
Als sie einen Augenblick später allein in ihrem Zimmer saß, fragte sie sich, ob die beiden ihr überhaupt zugehört hatten. War sie zu hart gewesen? Hatte sie die Mädchen womöglich verletzt? Mit einem Mal bekam sie Gewissensbisse. Doch als sie ins Kinderzimmer schlich, um nachzusehen, war sie überrascht, dass beide bereits eingeschlafen waren. Vielleicht hatten sie ihr ja wirklich zugehört. Vielleicht hatte Gott ihre Gebete erhört.
Mittwoch, 17. Mai 1837
Voller Abscheu ergriff Agatha das unberührte Tablett und verließ Frederics Räume. Seit zwei Wochen weigerte sich ihr Schwager nun schon, etwas zu sich zu nehmen, weil dies für ihn der einfachste Weg war, um seiner Frau in den Tod zu folgen. Seit er den unseligen Entschluss gefasst hatte, hatte er noch keinen Augenblick daran gezweifelt. Und er hatte sich auch nicht aus dem Sessel wegbewegt, als ob Colette noch immer auf der anderen Seite der Verbindungstür im Bett läge.
Verhungern war ein
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