Im Sommer der Sturme
und ließ sich in einen Armsessel fallen. »Wann werde ich das nur endlich lernen?« Er vergrub den Kopf in den Händen und massierte seine schmerzenden Schläfen.
Charmaines Hände zitterten, während sie den Brief über flogen. Warum hatte Colette ausgerechnet an John geschrieben? Obwohl er ihr das angetan hatte?
Rasch faltete sie den Brief und legte ihn auf den Schreibtisch zurück. Aber die Blätter entfalteten sich wieder, als ob sie zu neuem Leben erwachten. Unwillkürlich fiel Charmaines Blick auf das Datum auf der ersten Seite: Mittwoch, 8. März 1837 – auf den Tag genau einen Monat vor Colettes Tod!
Die liebevolle Anrede sprang ihr förmlich in die Augen. Liebster John . Worte, wie man sie an einen Geliebten richtete. Wenn sie Pauls Worten glauben konnte, so hatte Colette unter John gelitten. Doch Colette hatte immer behauptet, dass John wütend auf sie sei. Guter Gott , murmelte Charmaine, weil nichts zusammenpasste. Ob Colette ihren Zorn überwunden hatte und Frieden stiften und den Dämon durch Verzeihung umstimmen wollte?
Wieder nahm sie den Brief in die Hand. Dabei fiel ihr Blick auf einige Sätze im ersten Abschnitt, die nicht für ihre Augen bestimmt waren.
… Ich bete darum, dass dich der Brief erreicht. Ich setze großes Vertrauen in George, dass er ihn dir persönlich überbringt.
George? Also stimmte es! George war tatsächlich nach Virginia gefahren. Demnach musste der Brief äußerst wichtig gewesen sein, wenn er dafür monatelang seine Pflichten vernachlässigte. Charmaine las noch ein paar Zeilen. Diesmal mehr in der Mitte.
… Ich will nicht in dem Gefühl sterben, dass er sich in so schlechter Verfassung befindet und mir sofort ins Grab folgen will. Die Heftigkeit seines Zorns täuscht über die Tiefe seiner Liebe hinweg. Er braucht einen Menschen, der ihm den richtigen Weg zeigt. Ich habe es nicht vermocht, aber ich weiß, dass du das kannst. Wenn du jemals wirklich …
Plötzlich wurde die Tür zum Korridor aufgerissen, und John stürmte herein. Er knallte sie so heftig ins Schloss, dass die Wände erbebten. Er hatte schon fast das halbe Zimmer durchquert, als er Charmaine erblickte und ihr Schreckensruf ihn aus seinen Gedanken riss.
Was macht sie hier?
Im nächsten Augenblick war ihm alles klar. Sie drückte einen Brief an ihre Brust – seinen Brief. Das brachte das Fass zum Überlaufen. »Was haben Sie in meinem Zimmer zu suchen?«, schrie er. »Und warum kramen Sie in meinen Schubladen herum?«
Charmaine war viel zu sehr erschrocken, um überhaupt ein Wort herauszubringen. Ihr Unterkiefer zitterte. Sie hatte seine Privatsphäre verletzt. Für solches Benehmen gab es keine Entschuldigung.
»Ich warte auf Ihre Antwort, Mademoiselle!«
»Ich … Es tut mir leid!«, stotterte sie und brach in Tränen aus.
Der Brief fiel zu Boden, und Charmaines Füße setzten sich in Bewegung. Aber sie kam nicht weit. John packte ihren Arm, als sie an ihm vorbeilief, und wirbelte sie herum, sodass sie ihn ansehen musste.
»Nicht so hastig«, zischte er. »Was haben Sie in meinem Zimmer zu suchen?« Er schüttelte sie, wobei seine Finger wie Schlangen in ihren Arm bissen.
»Es tut mir leid«, wiederholte sie. Sie wehrte sich gegen seinen brutalen Griff. »Ich wusste doch nicht, dass es Ihr Zimmer ist!«
Obgleich das überzeugend klang, war es leichter, die Wut und den wilden Schmerz, der noch immer in seinem Herzen tobte, an dieser Frau auszulassen, die seine Zweifel nur jedes Mal weiter vertiefte, sobald sie ihm über den Weg lief. Sie war vielleicht keine eiskalt berechnende Agatha Blackford Ward, aber hinterhältig war sie auf jeden Fall doch.
»Und Sie erwarten wirklich, dass ich Ihnen das glaube?«, herrschte er sie an.
»Ich habe doch nur die Kinder gesucht«, sagte sie schluchzend.
» In meiner Schreibtischschublade? «
Sie riss ihren Arm los, aber dafür packte er den anderen umso heftiger. »Sie tun mir weh!«
»Das ist meine Absicht. Ich warte auf eine Antwort.«
Er stieß sie weg, sodass sie aufs Bett plumpste und ihren schmerzenden Arm rieb. Ihre Wangen waren noch tränennass, aber ihre Augen waren plötzlich trocken und blitzten vor Zorn. Vor Zorn über diesen John, der ihrem Vater so ähnlich war. Damit hatte er sein Schicksal besiegelt. Von nun an war keine anständige Unterhaltung mehr möglich. Er war ein Hund, und das würde er bleiben – ganz gleich, was Colette auch geschrieben hatte, um diese schwärzeste aller Seelen zu erreichen. Charmaine war keine Colette,
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