Im Sommer der Sturme
Schauspielerin.«
»Charmaine?«, stieß George ungläubig hervor. »Das meinst du doch nicht im Ernst!«
»Hat sie dich etwa auch eingefangen, George?«
George runzelte die Stirn. »Wovon redest du?«
»Ich habe sie vor ein paar Tagen dabei erwischt, wie sie in meinen Papieren herumgekramt hat.«
»Charmaine? Das kann ich nicht glauben. Bist du sicher?«
»Nein«, entgegnete John sarkastisch. »Es war alles nur Einbildung!«
»Das klingt nicht nach Charmaine! Hat sie es erklärt?«
»Eine lahme Entschuldigung – mehr nicht.«
»Charmaine ist keine Lügnerin«, wiederholte George, »sondern eine ehrliche und anständige junge Lady.«
»Und die Sache mit ihrem Vater?«
»Er hat seine Frau geschlagen, und eines Tages ist die Situation eskaliert. Das Ganze hat nichts mit Charmaine zu tun, und es macht sie verlegen, wenn man sie darauf anspricht.«
»Aha …«, giftete John triumphierend. »Das erklärt immerhin einiges.«
»Lass sie in Ruhe, John, oder du bekommst es mit mir zu tun.«
John war überrascht, wie leidenschaftlich George die Gouvernante verteidigte. Womit hatte sie seinen Bruder und offenbar auch seinen Freund bezaubert? »Weißt du, was, George? Du redest zu viel.«
»Na klar, ich rede zu viel!« George packte John am Arm, als er sich an ihm vorbeidrängen wollte, und zog ihn herum, sodass er ihm ins Gesicht sehen musste. »Irgendjemand muss dir ja mal ein oder zwei Dinge sagen!«
»Du kannst mir auch nicht das sagen, was ich hören will!«, entgegnete John heftig. »Warum gehst du nicht einfach und lässt mich in Ruhe?«
Er riss sich los, aber George war schneller und nahm die Brandyflasche an sich, die auf dem Tisch stand. »Ich kann dir vielleicht nicht sagen, was du hören willst, aber der Brandy wird dir dabei auch nicht helfen. Und selbst wenn das möglich wäre – ich bezweifle, dass die Vergangenheit besser war als die Gegenwart. Du warst drei Tage lang praktisch bewusstlos. Wenn du dich nicht aus dieser Betäubung befreien kannst, so wäre es besser, wenn du gehst. Geh zurück nach Virginia, damit Yvette und Jeannette dich wenigstens so in Erinnerung behalten, wie du vor vier Jahren warst. Der kleine Pierre … nun ja …«
»Mach nur so weiter, George«, stichelte John, während s ich der Ausdruck seiner Augen deutlich belebte. »Der kleine Kerl wird sich gar nicht an mich erinnern. Das wolltest du doch sagen?«
»Verdammt, John! Soll er denn aufwachsen und dich nur als Trunkenbold kennen – als sturen Ochsen, der alle um sich herum unglücklich macht? Möchtest du das wirklich?«
Es war völlig sinnlos, ins Bett zu gehen, dachte Char maine. Sie würde ohnehin nicht schlafen können. Stattdessen überflog sie noch einmal den Brief, den sie von Loretta Harrington erhalten hatte. Ihn zu beantworten, das war jetzt genau die richtige Ablenkung. Sie setzte sich an ihr Pult und griff nach Papier und Feder. Doch als der Brief fertig war, war sie nicht müder als zuvor. Sie hatte über eine Menge Dinge berichtet, aber der größte Teil des Briefes betraf John Duvoisin.
Charmaine starrte auf die Seiten. Ihre wirren Gedanken in Worte zu fassen hatte den Dämon keineswegs gebannt. Eher hatte sie erreicht, dass sich ihr sein Gesicht noch mehr eingebrannt hatte. Sie war wacher als je zuvor in ihrem Leben! Wie sollte sie die Atmosphäre dieses Schlafzimmers genießen, wenn ihre Gedanken immer wieder zu dem Moment zurückkehrten, als John hier eingedrungen war? Warum konnte sie diesen ersten Augenblick nicht vergessen? Warum sah sie alles noch so lebendig vor sich, fühlte noch immer seine Hände, seinen harten Körper, der sich gegen ihren presste, und seinen heißen Atem auf ihrer Wange? Nein! Ich will nicht an ihn denken! Ich will nicht! Lieber denke ich an Paul. An seinen Kuss vor dem Dinner oder an seine stürmische Umarmung in der Gewitternacht, als … Es war zwecklos! Sie musste dem entfliehen. Plötzlich lockte die Nachtluft. Sie dachte an den Garten im Hof … Ja, der Garten, wo sich die Meeresbrise mit dem Blütenduft mischte, dort würde sich das verhasste Bild von John Duvoisin verflüchtigen.
Paul stützte die Ellenbogen auf die Knie und legte sein Kinn auf die gefalteten Hände. Aber gegen das Chaos in seinem Kopf konnte auch die kühle Brise, die vom Ozean hereinwehte, nichts ausrichten. George hatte recht. Den ganzen Abend über hatte er den Hanswurst gespielt und nach der Pfeife seines Bruders getanzt, hatte Charmaine seinen Angriffen ausgesetzt und seine Würde für
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