Im Sommer der Sturme
teil, und es dauerte nicht lange, bis sich eine lebhafte Unterhaltung entwickelte. Die Mädchen waren über die ungewohnte Gesellschaft entzückt, und als sich Charmaine bewundernd über das Haus äußerte, bestanden sie sogleich darauf, sie überall herumzuführen. Doch Colette wandte ein, dass sie sich bis zum kommenden Tag gedulden müssten, wenn Charmaines Pflichten begannen.
Nachdem der letzte Gang beendet war, begleitete Charmaine ihre Besucher zum Eingang und musste tief Luft holen, als Loretta sie zum Abschied lächelnd in die Arme schloss.
»Ich bin sicher, dass es dir hier gefallen wird, Charmaine.«
»Das weiß ich.« Rasch schluckte sie einen Anfall von Rührung hinunter. »Sie werden auch bald abreisen, nicht wahr?«
»Erst wenn wir sicher sind, dass du hier glücklich bist. Ich kann die Gesellschaft meiner Schwester schon noch ein oder auch zwei Wochen ertragen.« Gwendolyn lachte, und Loretta und Charmaine stimmten ein. »Außerdem wissen wir ja noch gar nicht«, fuhr Loretta fort, »wann das nächste Schiff im Hafen einläuft.«
Charmaine sah noch zu, wie die beiden in den Wagen stiegen und davonfuhren. Doch als sie sich dem Haus zuwandte und ihr plötzlich klar wurde, dass der restliche Nachmittag ihr nun ganz allein gehörte, wünschte sie mit einem Mal, dass sie das Angebot der Mädchen zur Besichtigung des Hauses angenommen hätte. Wie dem auch sei. Colette hatte ihr ja ausdrücklich ans Herz gelegt, dass sie das Haus von nun an als ihr Zuhause betrachten solle und sie sich ungehindert überall bewegen dürfe.
Als Erstes spazierte Charmaine in den großen Wohnraum und wurde magisch vom Piano angezogen. Mit größter Vorsicht hob sie den Deckel an und strich über die elfenbeinernen Tasten. Doch bevor sie sich hinsetzen und spielen konnte, wurde sie von einer Stimme aufgehalten. »Hier sind Sie also!«
Es war Yvette, und sie war allein. Unwillkürlich musste Charmaine an Pauls gestrige Worte denken: Irgendwann wird Yvette zu weit gehen … Miss Ryan hat vielleicht einen besseren Einfluss auf meine kleine Schwester. Wenn ja, so wäre das der Beweis, dass sie mit Kindern umgehen kann … Offenbar hatte er noch immer keine bessere Meinung von ihr. Sie würde ihm schon noch beweisen, dass er sich irrte und man Kinder auch ohne Schläge erziehen konnte.
»Yvette? Du bist doch Yvette, oder?«
»Ja, richtig«, bestätigte die Kleine. »Haben Sie schon alles ausgepackt?«
Als Charmaine das bestätigte, meinte Yvette: »Dann können Sie sich ja jetzt ausdenken, was wir morgen Lustiges machen könnten.«
»Lustiges?«, fragte Charmaine. »Warum sagst du das?«
»In der letzten Zeit war es ziemlich langweilig. Nana Rose ist alt. Sehr alt! Und weil es Mama oft nicht gut geht, haben wir schon lange keine lustigen oder spannenden Sachen mehr gemacht. Wir hocken immer im dämlichen Kinderzimmer!«
»Also gut. Ich werde darüber nachdenken. Wie klingt das?«
Yvette schien nicht sehr überzeugt zu sein. Sie warf sich auf einen Sessel und zuckte die Schultern. »Wunderbar klingt das.«
Charmaine überlegte. Diese Unzufriedenheit konnte sie sich zunutze machen. »Ich habe eine Idee. Ich denke, dass man mit dir ein Geschäft machen kann.«
Yvette war ganz Ohr. »Ja?«
»Ich habe gehört, du sollst ziemlich schwierig sein.«
»Wer hat das gesagt?«
»Das ist nicht weiter wichtig. Wenn wir aber einen Vertrag schließen, könnten wir vielleicht beide mit dem Ergebnis zufrieden sein.«
»Was für einen Vertrag?«, fragte Yvette misstrauisch.
»Am letzten Freitag hast du deinen Bruder John erwähnt.«
»Was ist mit ihm?«
»Ich könnte ihm vielleicht einen Brief schicken.«
Yvette riss die Augen auf. »Wirklich?« Aber im nächsten Moment hatte sie Angst, dass sie hereingelegt wurde. »Und wie soll das gehen? Sie wohnen ja jetzt auch hier!«
»Aber meine Freunde kehren in ein paar Wochen nach Richmond zurück. Mr. Harrington kennt deinen Bruder. Er kann ihn sicher ausfindig machen.«
Yvette war vorsichtig. »Und was muss ich dafür tun?«
»Dich gut benehmen«, sagte Charmaine.
»Mich gut benehmen? Sonst nichts?«
»Nach allem, was ich gehört habe, fällt dir das ganz schön schwer. Du musst mir so gehorchen, wie du deiner Mutter gehorchst. Und keine Ausflüchte.«
Myriaden von Empfindungen spiegelten sich auf Yvettes Gesicht, während sie die Vor- und Nachteile abwog.
»Du hast recht, es ist vielleicht wirklich zu schwierig …«
»Ich bin einverstanden«, fiel ihr das Mädchen ins Wort.
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