Im Stein
Gemeinsamkeiten, und dann saßen sie zusammen und tranken Wein und rauchten (die langen Zigarettenspitzen aus Perlmutt oder verziertem Holz haben ihn immer sehr beeindruckt) und erzählten über die alten Zeiten, noch vor dem Krieg.
»Die Humanisten, mein Freund, die Humanisten. Die Humboldts waren hier zu Hause. Ulrich von Hutten. Martin Opitz, wenn die dir was sagen, aber du bist ja ein gebildeter Mann, was man so hört. Thomas Müntzer, obwohl der ja den Humanismus und den Fortschritt mit dem Schwert verbreiten wollte. Ja, und unsere Humanboxer Henry Maske und Axel Schulz natürlich auch.«
»Danke für die Stadtführung. Ich bin beeindruckt. Und wir sind die Erben der Tradition?«
»Sicher, sicher. Vielleicht wird man in hundert Jahren nicht mehr von uns sprechen. Aber wer weiß das schon. Die Grenze hat ihre eigenen Gesetze. Und wir heben den Standard und die Volkshygiene und den Profit.« Der Oberst hebt sein Glas. »Auf die Zukunft. Auf die Geschäfte. Auf unsere Zukunft. Auf unsere Geschäfte. Auf die Humanisten und das Schwert. Möge es in der Scheide bleiben!«
Sie trinken. Der Kellner räumt die Teller mit den Resten weg.
»Ich denke«, sagt der Oberst und wischt sich die Lippen ab und blickt auf die Rotweinspuren auf der Serviette, »ich denke, jetzt haben wir ein bisschen Zeit für eine richtige Stadtführung.«
Das Telefon klingelt. Er fährt hoch. Drückt die Zigarette in den Aschenbecher, wirft das Radio um. Beim dritten Klingeln ist er am Telefon und nimmt den Hörer ab. »Ja.« Nur ein Klicken, niemand in der Leitung, ein Knacken, dann das Besetztzeichen, er legt wieder auf. Er blickt auf die Uhr. Noch längst nicht drei. Ob er an der Rezeption anrufen soll und fragen, ob sie ihn angeklingelt haben oder ob sie die Nummer des Anrufes registriert haben? Nur keine Aufregung. Er braucht Ruhe. Als er wieder zum Bett gehen will, das Radio rauscht, und nur noch leise hört er die Stimmen von Domian und diesem Schmidt, klingelt es wieder. Er wartet. Beim fünften Mal will er abheben, aber da hört es auf. Er geht zum Fenster, schiebt die Gardinen etwas auseinander und blickt auf den Rathausplatz. Das große Rathaus ragt gegenüber aus dem Dunkel auf, gotische Spitzbögen über großen runden Fenstern, darüber noch weitere kleine Türmchen, Spitzen, ein Krankenwagen steht im Schatten des Portals, als hätte ihn jemand dort abgestellt und vergessen, oder der Notfall zieht sich hin, er hat diese Stadt an der Grenze noch nicht geordnet in seinem Kopf, als sie vorhin mit dem Wolga durch die Straßen fuhren, sah er weiße und graue Neubaublöcke hinter den kleinen schiefen alten Häusern, ein seltsames Durcheinander vor dem Abendhimmel, der jetzt klarer wird, Sterne, die Wolken treiben Richtung Fluss, der dort irgendwo hinter den Häusern sein muss. Später sieht er die Bögen einer Brücke, Lichter und Häuser auf der anderen Seite, eine andere Stadt oder ein Teil dieser, das muss Polen sein. Eine Reihe LKW auf dem Seitenstreifen der breiten Straße, die zur Brücke führt, langsam gleiten die Bilder an ihm vorbei, dunkle LKW, kaum ein Führerhaus ist beleuchtet, Schatten zwischen den großen langen Fahrzeugen und Anhängern, das sind doch Frauen?, da sieht er ganz genau, als würde das Bild kurz stehen bleiben, wie eine Frau, weiße Haut, weiße Haut unterm kurzen Stoff, in einen LKW klettert, ein Fuß noch auf dem Asphalt, die Hand am Türgriff der geöffneten Tür, wie sie sich hineinschwingt dort, im Führerhaus verschwindet, dicht an dicht stehen die Lastkraftwagen, eine graue gewundene Schlange in der Nacht, endlos, die Grenze, den Kopf, kann er nicht sehen; sie biegen ab, ein Park neben der Straße, wie ein kleiner Wald, umzäunt, am Zaun lehnen Gestalten, Frauen?, wieder Frauen?, aber das kann er nicht genau erkennen, zu viele Schatten, vielleicht auch Gesindel, Nachtwanderer, der Bahnhof ist immer sehr nah in dieser kleinen, mittelgroßen Stadt, der Oberst fährt schnell und geht rasant in die Kurven, scheinbar regungslos stehen sie dort am Zaun und unter den Bäumen, in den folgenden Tagen sieht er fast nur junge und blutjunge Mädchen auf den Straßen, dem Fleischmarkt der Grenzstadt.
»Kai, 32, hat gefragt, äh, die Samantha-Fox-Geschichte, ob das abgesprochen war?«
»Nein.«
»Nein? Das war spontan …«
»Das war spontan, sie hat mich ja direkt aufgefordert, ich hatte auch das Gefühl, sie war hinterher vielleicht ’n bisschen sauer, und … als ich ihr dann noch an die andere Titte
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