Im Strudel der Gefuehle
»Hätten Sie was dagegen, wenn ich mal sehe, wie er ausbalanciert ist?«
»Ja.«
Es dauerte einen Augenblick, bis Wolfes Antwort zu ihm durchgedrungen war. Als er begriff, was er gehört hatte, zog sich eine kaum sichtbare Röte über seine Wangenknochen.
»Das war nicht gerade besonders freundlich, Sir. Manch einer würde sogar sagen, Sie haben mich beleidigt.«
Wolfe lächelte.
Raleigh wirkte jetzt nicht mehr ganz so gelassen wie zuvor.
»Ich versuche nur, Ihnen Ärger zu ersparen«, sagte Wolfe. »Der Abzug ist ein bißchen empfindlich. Es ist schon vorgekommen, daß die Waffe losgegangen ist, als sie einfach nur von einem Mann zum anderen weitergereicht wurde. Und das wäre ja wirklich schade, oder? So ein hübscher Bursche wie du würde bestimmt jede Menge gebrochene Herzen zurücklassen. An deinem Grab würde bestimmt mehr geweint und gejammert als damals bei Appomattox, als Lee seinen Degen dem Feind überreicht hat.«
Raleigh richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Wollen Sie vielleicht die Südstaaten beleidigen?«
»Ich nicht, aber du. Jeder, der einen Offiziersstreifen am Ärmel trägt, sollte bessere Manieren haben. Es gehört sich nicht, eine Lady am Arm zu packen.« Ohne den Blick von Raleighs wütendem Gesicht abzuwenden, sagte Wolfe: »Tom, du solltest dem Schielenden Joe vielleicht dabei helfen, frische Pferde anzuspannen.«
»Jawohl, Sir«, sagte der Kutscher.
Er setzte seinen Hut auf und achtete darauf, daß er beim Hinausgehen nicht zwischen Wolfe und den jungen Mann geriet, der im Bürgerkrieg auf seiten der Verlierer gekämpft hatte. Langsam, beinahe unbemerkbar, glitt Raleighs Hand zum Griff seines Revolvers hinunter.
Entsetzt schnappte Jessica nach Luft.
»Ich habe es gesehen«, sagte Wolfe, bevor sie etwas sagen konnte. Er lächelte Raleigh an. »Laß dich nicht von all dem Gold und Silber in die Irre führen, Kleiner. Repetiergewehre wie dieses hier haben ganze Regimenter der Südstaatenarmee ausradiert. Wenn du mir nicht glaubst, brauchst du bloß nach deiner Waffe zu greifen. Du hast drei Kugeln in dir, bevor du überhaupt weißt, wie dir geschieht, und für deine Freunde bleiben immer noch zehn weitere übrig.«
Hinter Raleigh begannen die Männer, sich zu beiden Enden des Tisches zurückzuziehen.
»Ich erschieße den nächsten, der eine falsche Bewegung macht«, warnte Wolfe.
Niemand zweifelte an seinen Worten. Alle blieben still sitzen.
Jessica vergaß vor Aufregung zu atmen. Die Stille zog sich endlos in die Länge und zerrte an ihren Nerven, genau wie das Heulen des Windes draußen. Endlich fing der junge Mann an zu lachen. Seine Züge entspannten sich.
»Kein Grund, gleich aus der Haut zu fahren«, winkte Raleigh ab. »Ich wollte mich nur ein bißchen amüsieren, während ich auf die Postkutsche warte.«
»Richtung Osten?« fragte Wolfe.
»Nein, nach Westen.«
»Die nächste Kutsche Richtung Westen geht morgen um diese Zeit.«
»Morgen erst?« fragte Raleigh überrascht. »Und was ist mit der, die heute geht?« »Die ist voll.«
»Aber außer Ihnen und dem Mädchen...«
»Meine Frau«, unterbrach ihn Wolfe mit ausdrucksloser Stimme.
»Ihr seid die einzigen verdammten Fahrgäste!«
»Wie ich bereits sagte. Die Kutsche ist voll.«
Raleighs Körper versteifte sich erneut.
»Das hat keine Eile, Raleigh«, sagte einer der Männer gelassen. »Wenn der Herr mit dem Gewehr sich ganz allein auf eine Schießerei mit den Indianern einlassen will, dann wollen wir ihn nicht aufhalten. Ein Yankee-Bastard weniger ist mir ganz recht. Ich habe Besseres zu tun.«
Ärgerlich drehte sich Raleigh nach dem Sprecher um, sagte aber nichts.
»Dein Freund hat dir einen ausgezeichneten Rat gegeben«, sagte Wolfe zu Raleigh. »Und hier ist noch ein guter Rat — du bleibst besser hier drinnen, bis die Kutsche abgefahren ist.«
Jessica wartete nicht, bis ihr Wolfe die Tür aufgemacht hatte. Sie wollte verhindern, daß er den Männern in der Station den Rücken zukehrte. Ohne ein Wort zu verlieren, machte sie die Tür auf und rannte quer über den eisigen Hof auf die Kutsche zu. Erst nachdem sie eingestiegen war, begann sie sich langsam wieder zu beruhigen.
Ganz im Gegensatz zu Wolfe. Selbst im Inneren der Kutsche legte er sich den Karabiner auf den Schoß und beobachtete die Station mit der Konzentration eines Raubtiers. Niemand versuchte ihnen zu folgen.
Dann knallte plötzlich die Peitsche des Kutschers wie ein Pistolenschuß, die Pferde legten sich ins Geschirr, und die
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