Im Sturm des Lebens
die Tränen über die Wangen strömten. »Ich möchte meinen Vater begraben, René. Lass mich meinen Anteil daran haben, und danach brauchen wir uns nie wieder zu sehen oder miteinander zu sprechen.«
René steckte ihr Taschentuch fort. Sie trat auf Sophia zu. Im Raum war es mäuschenstill. Sie wartete, bis Sophia wieder aufgestanden war. »Er gehört mir. Und du wirst an gar nichts teilhaben.«
»René!« Sophia streckte die Hand aus und zog scharf die Luft ein, als René sie wegschlug.
»Mrs. Avano«, sagte Claremont warnend und ergriff ihren Arm.
»Sie soll mich nicht anfassen. Wenn du oder irgendjemand aus deiner Familie mich jemals wieder anruft, dann kriegt ihr es mit meinen Anwälten zu tun.« René reckte hochmütig das Kinn und marschierte aus dem Zimmer.
»Reine Gehässigkeit«, murmelte Sophia. »Das tut sie nur aus Gehässigkeit.«
»Ms. Giambelli ...« Maguire ergriff ihren Arm. »Setzen Sie sich doch. Ich hole Ihnen einen Kaffee.«
»Ich möchte keinen Kaffee. Sagen Sie mir, ob Ihre Ermittlungen irgendwelche Fortschritte gemacht haben.«
»Im Moment können wir Ihnen nichts Neues berichten. Es tut mir Leid.«
»Wann wird die Leiche meines Vaters freigegeben?«
»Die sterblichen Überreste Ihres Vaters sind heute morgen freigegeben worden, an seine nächste Angehörige.«
»Ich verstehe. Ich habe meine und Ihre Zeit verschwendet. Entschuldigen Sie.« Sophia ging hinaus und zerrte ihr Handy aus der Tasche. Zuerst versuchte sie, Helen Moore anzurufen, aber man sagte ihr, die Richterin sei in einer Verhandlung und nicht zu erreichen.
»Glaubst du, sie kann René aufhalten?«, fragte Tyler.
»Ich weiß nicht. Ich muss es versuchen.« Als Nächstes rief sie in James Moores Büro an, aber er war in einer Sitzung. Zuletzt versuchte sie es bei Linc. »Linc? Ich bin es, Sophia. Ich brauche Hilfe.«
Pilar saß auf einer Steinbank im Garten. Es war kalt, aber, bei Gott, sie brauchte Luft. Im Haus kam sie sich vor wie eingesperrt. Eingesperrt von den Wänden und Fenstern, bewacht von den Menschen, die sie liebten und ihr Bestes wollten.
Behütet wie ein Invalide, der jeden Moment dahinscheiden konnte, dachte sie.
Die anderen glaubten, sie trauere, und sie ließ ihnen den Glauben. Ist das die größere meiner Sünden? fragte sie sich. Dass ich jeden glauben lasse, ich verginge vor Trauer?
Dabei fühlte sie nichts. Konnte nichts fühlen.
Nur eine leise Spur von Erleichterung.
Sie hatte Schock, Kummer und Trauer empfunden, aber es war alles ziemlich rasch vorübergegangen. Nun schämte sie sich wegen dieses Mangels an
Gefühl so sehr, dass sie ihre Familie weitestgehend mied. Fast das ganze Weihnachtsfest hatte sie in ihren Zimmern verbracht, unfähig, ihr Kind zu trösten, aus Angst, das Kind könnte die Unaufrichtigkeit der Mutter bemerken.
Wie konnte es geschehen, dass Liebe sich so schnell in Nicht-Lieben und dann in Gleichgültigkeit verwandelte? fragte sich Pilar. Hatte sie diesen Mangel an Leidenschaft und Mitgefühl schon immer besessen? Und hatte Tony sie deshalb verlassen? Oder hatte sein gedankenloses Verhalten in ihrer Ehe all ihre Fähigkeiten zu fühlen abgetötet?
Das spielte nun wohl kaum noch eine Rolle. Er war tot – und sie war leer.
Pilar stand auf und wandte sich zum Haus, blieb aber stehen, als sie sah, dass David ihr auf dem gepflasterten Pfad entgegenkam.
»Ich wollte Sie nicht stören.«
»Das ist schon in Ordnung.«
»Ich habe versucht, Sie nicht zu belästigen.«
»Das war nicht nötig.«
»Ich hielt es doch für nötig. Sie sehen müde aus, Pilar.« Und einsam, fügte er in Gedanken hinzu.
»Das sind wir vermutlich alle. Ich weiß, dass Sie in den letzten Tagen zahlreiche Zusatzverpflichtungen übernommen haben. Ich hoffe, Sie wissen, wie dankbar wir Ihnen dafür sind.« Sie wäre fast zurückgewichen, als er auf sie zukam, zwang sich aber, stehen zu bleiben. »Wie war Ihr Weihnachtsfest?«
»Anstrengend. Ich bin froh, wenn endlich Januar ist und die Kinder wieder zur Schule gehen. Kann ich irgendetwas für Sie tun?«
»Nein, eigentlich nicht.« Sie wollte sich am liebsten entschuldigen und in ihr Zimmer flüchten. Wieder
einmal. Aber dann blickte sie ihn an, und ohne dass sie es wollte, strömten auf einmal die Worte aus ihrem Mund. »Ich bin so nutzlos hier, David! Ich kann Sophia nicht helfen. Ich weiß, dass sie versucht, sich mit Arbeit abzulenken, und sie verbringt viel Zeit damit, mich in ihrem Büro anzulernen. Aber ich vermassele einfach immer
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