Im Süden: Die Bayou-Trilogie (German Edition)
hob den Topf mit den Krebsen hoch. »Vorsicht«, sagte sie, »sie sind fertig.«
Shade öffnete den Kühlschrank und entdeckte einen Vorrat texanisches Bier, nahm sich eine Flasche und setzte sich dann an den Küchentisch. Wie auf den meisten freien Flächen in Nics Wohnung lagen auf dem Tisch mehrere aufgeschlagene Bücher. The Women at Point Sur, Paris – ein Fest fürs Leben, etwas über Vermeer und zwei Romane von Shirley Ann Grau boten sich zur Lektüre beim Kochen an.
»Was kochst du?«
»Flusskrebse, gelben Reis und Tomaten – irgendwelche Einwände?«
»Nein.«
»Will ich dir auch geraten haben, wenn du Hunger hast. Was andres gibt’s nämlich nicht.«
Von ihrer Geburt bis zum Alter von achtzehn Jahren war Nicole in Port Lavaca, Texas, zu Hause gewesen. Sie hatte als Kind die salzige Golfluft eingeatmet, und noch heute hatte man den Eindruck, dass ihr Blick immer auf den fernen Horizont gerichtet war. Während des letzten Schuljahres hatte sie sich vor und nach dem Unterricht am Dock abgerackert und Garnelen geputzt und jeden Penny für die Flucht nach Schulende gespart. Gemeinsam mit Sandy Colter, ihrer besten Freundin, war sie nach Italien geflohen. Aber nach acht Wochen hatte Sandy erklärt, sie hätte Probleme mit dem Wasser, den Männern, den Frauen, den Hunden, den Motorrollern und dem »ständigen Scheißknoblauch«. Sie fuhr wieder nach Hause, und Nicole blieb allein zurück und versuchte, sich in Triest durchzuschlagen. Ein paar Monate später, bei einem Abstecher nach Griechenland, nahm sie die Fähre von Brindisi nach Patras und hörte zwei langhaarige Knaben texanisch reden. Plötzlich öffnete der Himmel seine Schleusen, und sie hockte mit den beiden unter einem Regencape und nippte an einer Flasche Ouzo, während sich um ihre Füße Pfützen bildeten.
Der charmantere der beiden Texaner hieß Keith Goodis, und er behauptete, er sei von der Anlage her eigentlich Stock-Car-Fahrer und werde bald auch in Wirklichkeit einer sein. Zwei Wochen später war Nicole wieder in Triest und allein, und weil sie sich nun noch einsamer fühlte, begann sie, die Alte Welt eher spießig als charmant zu finden und flog nach Hause.
In Port Lavaca packte sie alles Lebensnotwendige in einen Seesack und trampte nach Austin, wo sie auf Keith Goodis Türschwelle freudig begrüßt wurde. Die nächsten drei Jahre, während derer Keith sich auf den staubigen Pisten des Südens zu beweisen versuchte, ging Nicole zur Universität mit der diffusen Vorstellung, irgendeinen anständigen Beruf lernen zu wollen, zum Beispiel Englischlehrerin. Aber im Lauf der Zeit durchzog ein immer mürrischerer Unterton ihre Tage, denn der gute alte Keith hatte sich einen Beruf ausgesucht, für den er nur wenig Talent besaß. Nach siebzehn Sonntagsrunden ohne Geld warf er Nicole und dem häuslichen Leben vor, sie würden ihm die Wildheit, die er für seinen Beruf brauchte, aus der Seele saugen, und Nicole konterte mit ein paar schnippischen Bemerkungen über Hand-Auge-Koordination und Pudding im Gehirn.
Am folgenden Tag schmiss sie den ganzen Unikrempel hin und rief ihre alte Freundin Sandy an, die inzwischen in St. Bruno ihr wahres Selbst gefunden hatte. Sie lebte dort mit ihrer Freundin Kathleen und hatte ein gutgehendes kleines Unternehmen, das alte Häuser renovierte und weiterverkaufte. Komm doch rüber, sagte sie, und Nicole kam. Sie arbeitete mit Sandy und Kathleen, bis Kathleen eifersüchtig wurde, weil Nicole Sandy schon seit ihrer Kindheit kannte. Eine Weile hatte sie recht wenig zu essen, dann nahm sie den Job in Maggie’s Keyhole an. Sie war jetzt achtundzwanzig und fühlte sich in Frogtown und mit Shade sehr wohl, aber sie hatte immer noch eine gewisse Rastlosigkeit in sich, die einem den Eindruck gab, sie würde immer auf etwas warten.
Als Nicole die Schüssel mit den Flusskrebsen, dem Reis und den Tomaten auf den Tisch stellte, sagte Shade: »Warum steht im Kühlschrank lauter texanisches Bier?«
»Ach, hin und wieder packt mich das Heimweh nach ein bisschen Lone Star.«
»Aha«, brummte Shade. Er häufte sich den Teller voll – von allem etwas – und kippte sich dann einen kräftigen Schluck hinter die Binde. Während er einen Krebsschwanz abriss, sagte er: »Ich wette, Lone Star war das Lieblingsbier vom guten alten Keith, stimmt’s?«
»Tu das nicht«, entgegnete Nicole. »Bitte – das gibt Punktabzug bei mir.«
»Okay«, sagte er. »Verstehe.« Seit Nicole den Fehler gemacht hatte, ihm die Einzelheiten
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