Im Süden: Die Bayou-Trilogie (German Edition)
marschieren.
Rousseau Street verlief parallel zum Fluss: eine Straße mit Warenlagern, billigen Absteigen und Filialen der Heilsarmee, bevölkert von Säufern, notorischen Pechvögeln und ein paar, die man mehr oder weniger als Heilige bezeichnen konnte. Entlang den Schienen standen mehrere Kohlenschuppen, die den Pennern Obdach boten, die sich den Dollar für eine Übernachtung nicht leisten konnten und auch nicht bereit waren, für einen Teller Suppe und ein Feldbett samt Militärdecke zum Thema Gott einen Meineid zu leisten. Das war urbaner Darwinismus; die Hartgesottenen überlebten dank ihrer grenzenlosen Wut, während die Schwachen lautlos untergingen.
Shade ging auf vier Männer zu, die offensichtlich die alltäglichen Frustrationen und narzisstischen Kränkungen zusammengeschweißt hatten. Zwei von ihnen waren grau, mit vom Alter ausgebleichten Gesichtern, die beiden anderen waren auf dem besten Weg, die gleiche Verwandlung durchzumachen.
»Vorhin ist hier ein blonder Mann vorbeigekommen«, sprach Shade sie an. »Wahrscheinlich ist er gerannt. Habt ihr ihn gesehen?«
»Seit Glenn Miller tot ist, hab ich keinen gesehen, den ich sehen wollte «, antwortete einer der Grauen.
»Blond, ja?«, sagte einer der beiden weniger Grauen. »Blond. Mein Freund Terry ist blond. So ’ne Art Spülwasserblond. Ich mag ihn, und er mag mich. Aber er lebt in Memphis, wissen Sie. Das ist nicht hier.«
»Stimmt«, sagte Shade. Dann wandte er sich an das jüngste Gruppenmitglied. »Haben Sie den Jungen gesehen, den ich beschrieben habe?«
Der Mann schüttelte den Kopf.
»Ich seh nie jemanden«, brummte er. »Das ist mein Grundsatz, ja.«
»Dacht ich’s mir doch«, meinte Shade resigniert und trabte wieder los.
Ein Stück weiter auf der trostlosen Straße erinnerte sich Shade plötzlich daran, wie man sich früher einen Sport daraus gemacht hatte, die versackten Säufer, die im Wald am Fluss übernachteten, mit Steinen und Schimpfwörtern zu traktieren, und überlegte sich, ebendiesen Wald zu durchsuchen. Vor der katholischen Herberge namens Holy Order of Man blieb er einen Augenblick stehen, aber dann kam er zu dem Schluss, dass zu viele Leute erforderlich wären, um die Suche ordentlich durchzuziehen.
Da hörte er ein Klopfen, und als er sich umdrehte, sah er einen Mann mit lila Daumenabdrücken unter den Augen, der ihm von der Tür der Holy Order aus zuwinkte.
»Sie sind doch ein Gesetzeshüter«, rief er mit heiserer Stimme. Seine Haut war bleich, als wäre er krank oder ein Asket, sein Kopf war frisch rasiert. »Wie Sie so rumstehen mit dem Daumen im Arsch, da hab ich mir doch gedacht: ›Dieser Mann ist ein Hüter des Gesetzes.‹« Er rieb mit einem Streichholz über den Fenstersims und zündete sich eine Zigarette an. »Hab ich recht?«
»Woher wussten Sie das?«, fragte Shade, obwohl die Gabe, einen Cop zu erkennen, seiner Erfahrung nach nicht gerade selten war.
»Ich bin ein Laienbruder«, erklärte der Mann und bleckte seine gelben Zähne. »Aber früher, da wär ich in Ihr Fenster im Oberstock eingestiegen und mit Ihrem Fernseher und Ihrem Kondom-Vorrat verschwunden, während Sie beim Pinkeln waren. Dann hatte eines Tages ein guter Bürger seine Dachrinne nicht besonders gut befestigt, und ich bin abgestürzt.« Der Mann stieß den Rauch aus und nickte bekräftigend. »Sie haben mich erwischt, aber ich bin aufgewacht und plötzlich wusste ich, wer unser Herrgott ist.«
»Es gibt schon seltsame Fügungen.«
»Und billige Nägel.«
»Ich suche jemanden.«
»Ehrlich?«
»Blonder Typ, auf der Flucht.«
»Hat er was auf dem Kerbholz?«
»Ja«, antwortete Shade. »Hat er.«
»Also, ich bin sicher, unser Herrgott liebt ihn trotzdem.«
»Unser Herrgott hätte ihn daran hindern sollen, so was zu tun.«
Der Mann inhalierte so tief, dass seine Lungen rasselten, dann zuckte er mit den Achseln und atmete eine dicke Rauchschlange aus.
»Der Herr ist nicht rechthaberisch«, sagte er. »Das ist das Gute an der Liebe Gottes, wissen Sie. Er klammert nicht, wie man so schön sagt, sondern nimmt alles ziemlich locker.«
»Aha«, brummte Shade. »Das ist mir auch schon aufgefallen.«
»Aber heute bin ich ein neuer Mensch. Ich werd Ihnen was verraten. Ich hab den Sünder gesehen, den Sie suchen.«
»Wohin ist er gegangen?«
Der Mann deutete die Schienen entlang nach Norden.
»Dorthin. Er hat dem Teufel direkt ins Gesicht geblickt. Das hab ich an seinen Augen gesehen, und er konnte sich kaum aufrecht halten.«
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