Im Tal der Mangobäume
Mädchen, sie sollen nichts mitbekommen.«
»Ja, natürlich, ich verstehe.« Rosa sprang auf und schloss die Tür.
»Ist es denn so schlimm?«, fragte sie.
»Ja. Verzeihen Sie, Rosa. Ich bin ja so dumm.«
»Aber nein. Was ist denn geschehen? Ich bestehe darauf, dass Sie es mir sagen. Wenn es ein dunkles Geheimnis ist, verspreche ich, es keiner Menschenseele zu erzählen.«
Als ihre Schluchzer abebbten, sah Lucy Mae ihren Gast an und entdeckte eine Liebenswürdigkeit, die sie in Erstaunen versetzte. Sie hatte sich Rosa stets als überhebliche Person vorgestellt, die sich prachtvoll kleidete. So wie heute, dachte sie kläglich angesichts von Rosas marineblauem Seidenkostüm, dessen bodenlanger Rock ein breiter Saum zierte.
»Es tut mir wirklich leid, dass ich mich so dumm anstelle. Wir kommen gern zu Ihnen zum Tee …«
Ein neuerlicher Tränenschwall brach hervor und Rosa legte abermals die Arme um sie. »Aber, aber … ist jemand gestorben?«
»Nein! Nichts dergleichen.« Lucy Mae atmete tief durch, zog den Brief hervor und reichte ihn ihrer neuen Freundin.
»Soll ich den wirklich lesen?«, fragte Rosa. Lucy Mae nickte nur. »Nanu! Er ist von Duke!«
»Ja.«
Rosa brauchte eine schiere Ewigkeit, um den Brief zu lesen, und als Lucy Mae sie ein Blatt umwenden sah, flüsterte sie: »Sie erzählen es nicht weiter, nein?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Rosa abwesend. »Aber weshalb weinen Sie? Er macht Ihnen einen Heiratsantrag! Das ist wundervoll, Lucy Mae. Sie sollten glücklich sein, Sie sollten Freudensprünge machen.«
»Oje!« Lucy Mae nahm rasch den Brief und schob ihn wieder in ihre Tasche. »Da kommt meine Mutter!«
»Soll sie es denn nicht erfahren?«
»Auf keinen Fall. Bitte, kein Wort.«
»Ist gut.« Rosa entnahm ihrer Handtasche eine kleine goldene Puderdose mit weißem Gesichtspuder. Sie stäubte ein wenig auf Lucy Maes Wangen und tupfte auch etwas um ihre Augen. »So. Das wirkt Wunder. Jetzt lassen Sie mich noch Ihre Frisur richten.«
Lucy Mae brachte ein Lächeln zustande. »Ich habe noch nie Gesichtspuder benutzt.«
»Sie müssen sich welchen besorgen! Ist sehr nützlich.«
Milly kam aufgeregt hereingeflattert und umarmte Rosa. »Du meine Güte, ich habe mich gefragt, wem die Kutsche da draußen gehört, und nun bist du hier, Rosa. Wie lieb von dir vorbeizukommen. Und du, Lucy Mae, wo hast du nur deine Gedanken? Hast du angeordnet, dass man Rosa Tee oder eine Erfrischung bringt?«
»Nein, ist schon gut so«, sagte Rosa bestimmt. »Ich kam gerade vorbei, und da fiel mir ein, dass Lucy Mae und ich so gut wie Fremde sind, deshalb habe ich sie für Mittwoch zum Tee eingeladen, und sie hat liebenswürdigerweise zugesagt. Aber jetzt muss ich mich beeilen. Ach übrigens, Milly, ich wollte dich etwas fragen. Mit welchem Schiff bist du eigentlich nach Australien gekommen?«
»Oh. Mit der
Emma Jane
, meine Liebe. Dermott und ich waren so jung. Aber warum wolltest du …«
Rosa schwindelte: »Ich fertige gerade eine kleine ›Lebenszeiten‹-Karte für Georgina Heselwoods Geburtstag im nächsten Monat an.«
»Sehr hübsch, sehr angebracht, solche Karten. Wie geht es Georgina? Hast du nicht nach dem Unfall Krankenschwester bei ihr gespielt? Was ist eigentlich genau geschehen?«
»Das ist eine lange Geschichte. Die erzähle ich ein andermal. Jetzt muss ich aber wirklich gehen. Nicht vergessen, Mittwoch, Lucy Mae. Pip-pip!«
»Unerhört«, sagte Milly. »Pip-pip? Was ist das? Argentinisch für winke-winke? Sie hätte die Einladung ruhig auf mich ausdehnen können. Wir sind immerhin befreundet.«
»Ich kann mir vorstellen, dass sie sich nach gleichaltriger Gesellschaft sehnt«, meinte Lucy Mae, die im Begriff war, das Wohnzimmer zu verlassen.
»Was wirst du anziehen?«
»Ach, Mutter, das weiß ich noch nicht.«
Lucy Mae ging in die Küche und war froh, dort niemanden anzutreffen. Still übergab sie Dukes Brief den glühenden Kohlen im Herd. Sie sah zu, wie die Bogen sich an den Rändern kräuselten und dann in Flammen aufgingen, und sie fühlte sich ein wenig erleichtert, weil der Brief ihrer Mutter nicht in die Hände fallen konnte. Sie könnte es einfach nicht ertragen, wenn sie ihn läse.
Und Rosa! »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, dass ich ihn ihr gezeigt habe«, stöhnte sie, während sie aus dem Nebeneingang schlich und sich rasch vom Haus entfernte, »aber sie ist wirklich nett. Und sehr klug.«
Lucy Mae war erstaunt, wie souverän Rosa die Lage beherrscht hatte.
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