Im Tal der roten Sonne - Australien-Saga
deiner herzergreifenden Rede zum Narren halten«, ihr Kopf zuckte absichtlich in die Richtung ihres Vaters, »aber nicht mich.«
»Du kennst mich nicht, Tante Lisel, also urteile bitte nicht derart ablehnend und vorschnell«, antwortete Carla. »Du hast mir nie eine Chance gegeben.«
»Das stimmt, und das werde ich auch nie tun.« Frustriert, weil sie keinerlei Unterstützung von ihrer Familie erhielt, richtete Lisel ihren zornigen Blick auf Luke. »Und du, mein lieber Neffe, bist der größte Verlierer, denn du wirst deines Erbes beraubt.«
»Lisel, jetzt reicht es«, brüllte Carl seine jüngste Tochter an und schlug mit der Faust auf den Tisch, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Solch skandalöses Benehmen dulde ich keinesfalls an meinem Tisch. Die Vergangenheit ist vorbei«, seine Stimme war kraftvoll; es schwang jedoch ein gewisses Bedauern darin mit, »und kann nicht geändert werden. Ich habe mich entschieden, Carla und Sam in unsere Familie aufzunehmen. Und ob dir das gefällt oder nicht, du musst es akzeptieren.«
Lisel sprang auf und hätte fast ihren Stuhl dabei umgeworfen. Verbissen schüttelte sie den Kopf. »Ehe ich das tue, friert die Hölle zu.«
Luke beobachtete, wie seine Tante mit kerzengeradem Rücken auf die Tür zuschritt. Er hatte Lisels Temperamentsausbrüche schon öfter erlebt, aber einen so heftigen noch
nie. Und noch nie war ein solcher Ausbruch so offen gegen seinen Großvater gerichtet gewesen. Die Wut in ihren Augen, ihre starken Emotionen und ihr uneingeschränkter Hass Carla gegenüber machten ihm mehr zu schaffen als ihre Anspielung auf ein womöglich kleineres Erbe. Etwas Seltsames ging mit seiner Tante vor sich, er konnte es nicht länger verleugnen. Aufgrund von Geschichten, die ihm seine Mutter erzählt hatte, wusste er, dass sie als Kind sehr verwöhnt worden war und dass sie oft ungehalten reagierte und gemein wurde, wenn die Dinge nicht nach ihrer Nase gingen - wie es auch heute Abend der Fall war. Lisel Stenmark hatte etwas Skrupelloses an sich. Obwohl dies nur selten zum Ausbruch kam, war es dennoch permanent vorhanden. Und da ihr Hass auf Carla so tief war, konnte niemand wissen, wozu sie sonst noch in der Lage war.
Luke blickte seinen Großvater verstohlen von der Seite an und bewunderte die Entschlossenheit des alten Mannes. Lisels Angriff hatte ihn nicht einen Deut von seiner Entscheidung abgebracht. Er war fest entschlossen, das Unrecht, das Rolfe, Carla und Sam angetan worden war, wiedergutzumachen. Luke wusste, dass die geänderte Meinung seines Großvaters im Barossa Valley Klatsch und Tratsch auslösen würde. Aber für Carla konnte und würde es einen Riesenunterschied machen. Die Anerkennung der Stenmark-Familie würde ihr alle Türen öffnen. Es würde eine große Last von ihren Schultern nehmen und ihr die Möglichkeit geben, ihre Pläne zu verwirklichen. Außerdem hoffte Luke, dass sie etwas aufgeschlossener für seine eigenen Pläne sein würde. Er könnte sie beispielsweise zum Golfspielen mitnehmen und herausfinden, ob sie Talent dafür hatte.
Carla packte den todmüden Sam ins Bett und strich ihm die rotblonden Haarsträhnen aus der Stirn.
»Nacht, Mum«, murmelte er und gähnte. Seine Augenlider flatterten - und schon schloss er die Augen und schlief ein.
Lächelnd richtete sie sich auf. Sam hatte einen wunderschönen Abend in Stenhaus verbracht. Sein Urgroßvater, John und Luke hatten viel Aufhebens um ihn gemacht. Und wie verblüfft er gewesen war, als Greta ihnen das Gemälde von ihrer Mutter gezeigt hatte! Sam war sofort aufgefallen, wie ähnlich Carla Anna Louise sah. Leise schloss sie die Tür zu Sams Zimmer und ging in ihr eigenes. Endlich bekam er die Familie, die er verdient hatte, war alles, was sie noch denken konnte.
Rasch zog sie sich aus und schlüpfte unter die wärmende Bettdecke. Sie würde sich immer an den heutigen Abend erinnern. Er würde der Anfang eines etwas leichteren und erfüllten Lebens für sie und ihren Sohn sein. Vor knapp zwei Jahren hatte sie die riskante Entscheidung getroffen, sich selbst und Sam aus der gewohnten Umgebung von Christchurch herauszureißen und hier ein neues Leben zu beginnen. Oft hatte sie an der Richtigkeit ihrer Entscheidung gezweifelt. Sie hatte viel Kummer und Rückschläge erlebt, aber das gehörte hoffentlich jetzt der Vergangenheit an.
Ihre Gedanken schweiften zu Luke. Sie wusste, dass er dazu beigetragen hatte, dass ihr Großvater seine Meinung ihr gegenüber geändert hatte.
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