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Im Tal der Schmetterlinge

Titel: Im Tal der Schmetterlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gail Anderson-Dargatz
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wütete. Aber aus unserem Haus drang kein bisschen Licht. Vielleicht rührte das Lied also doch von woanders her, von einem der Nachbarn, und wurde von
den steilen Talwänden zurückgeworfen. In meiner Kindheit hatte mich meine Mutter davor gewarnt, im Freien über unsere Nachbarn zu reden, da sie Angst hatte, unsere Klatschgeschichten könnten über die Felder zu ihnen getragen werden.
    Auf einmal schälte sich eine Gestalt aus der Dunkelheit, stand neben den Büschen, die den alten Brunnen umgaben.
    »Hallo?«, rief ich. Der Mann verharrte vollkommen still und antwortete nicht. Ich konnte kein Gesicht ausmachen, keine Hände, nur seinen Umriss, wie ein Schatten in der Finsternis, allerdings einen Lichtstrahl, der sich in seiner Brille spiegelte. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich. Er machte einen Schritt zurück ins Gebüsch, sodass er aus meinem Blickfeld verschwand. Ich stand einen Moment wie erstarrt da, während mir das Herz in der Kehle pochte. Dann lief ich los, und als ich am Brunnen vorüber war, hörte ich Schritte, die mir folgten. Ich ließ die Pfanne mit dem Fudge fallen und floh in Richtung des Hauses. In meinen Ohren dröhnten mein eigener Atem und das Donnern meines Pulses. Die schweren Schritte holten auf. Das Rasseln von Schlüsseln in einer Hosentasche.
    Die Melodie kam zweifelsfrei vom Haus meiner Eltern. Keuchend erreichte ich die Veranda. Die Schritte hinter mir knirschten laut auf dem Kies. Als ich die Küchentür hinter mir zuknallte und hastig abschloss, erstarb die Musik mit einem Schlag.
    »Mommy!«, sagte Jeremy, »guck mal, guck mal!« Ich drehte mich um und sah meinen Sohn in der dunklen Küche. Sein Gesicht wurde vom roten Schein des Herds erleuchtet. Alle Platten waren angeschaltet.

12.
    MEINE MUTTER BALLTE beim Lesen ihrer Notizen die Faust, öffnete sie dann wieder und schüttelte die Hand aus, um den angesammelten Schmerz vom jahrzehntelangen Schreiben abzustreifen. Ich kannte diesen Schmerz, das plötzliche Stechen in den Fingern, die Angst, mitten in der Nacht zu erwachen und festzustellen, dass die Hand abgestorben war, und anschließend das Kribbeln, wenn ich sie schüttelnd wieder zum Leben erweckte. Zum Schlafen trug ich jede Nacht eine Schiene, die Ezra - nach dem richtigen Wort suchend - einmal als meine »Abendhandschuhe« bezeichnet hatte. Scherzhaft nannte ich sie nun meine »schusssicheren Abendhandschuhe«, klobige Plastikteile, die jegliche Berührung zwischen Ezra und mir in der kostbaren Morgenstunde vor Jeremys Erwachen vereitelten. Ich litt wie unzählige andere am Karpaltunnelsyndrom, einer typischen Krankheit des schreibenden Berufsstandes. Meine Mutter hingegen gab allein dem Blitzschlag die Schuld daran, dass ihr Arm manchmal ohne Vorwarnung in die Höhe schnellte und ihre Finger kribbelten oder taub wurden.
    »Möchtest du etwas, Mom?«, fragte ich sie. »Es ist Zeit für eine Kaffeepause.«
    »Nur eine Tasse Tee.«

    Ich steckte den neuen Wasserkocher ein, der neben dem meiner Mutter stand. Ich hatte ihn ihr gekauft, doch obwohl sie ihn nicht von der Küchenzeile räumte, benutzte sie ihn nicht, sondern gab dem alten Wasserkessel den Vorzug, der unzählige Gespräche, Auseinandersetzungen und Feste miterlebt hatte. Im Laufe des Tages machte meine Mutter eine Tasse Tee nach der anderen und trank sie ausnahmslos am Küchentisch, wo das wunderschöne Noritake-Milchkännchen und die Zuckerdose standen, die meiner Großmutter gehört hatten - dieses Service hatte Maud benutzt, wenn Valentine sie besuchte. Milchkännchen und Zuckerdose waren beide handbemalt und mit den stilisierten Augen von Pfauenfedern verziert, die zu uns hochstarrten, während wir unseren Tee tranken, genauso wie sie zu Maud und Valentine hochgestarrt haben mussten. Meine Mutter war mit diesen vertrauten Gegenständen ihrer Vergangenheit unzertrennlich verbunden.
    »Ich will Zimttoast, bitte!«, sagte Jeremy.
    »Wir haben keinen braunen Zucker«, erklärte ich ihm.
    »Ich habe eine Packung im Schrank«, widersprach meine Mutter. »Oder etwa nicht?«
    »Ich habe gestern Abend alles aufgebraucht, für Grandmas Fudge.« Von dem ich selbst kein Stück probiert hatte. Als ich heute Morgen nach draußen gegangen war, um die Pfanne zu holen, hatte die Karamellmasse in einem einzigen großen Klumpen auf dem Boden gelegen, angeleckt und angefressen von den Katzen meiner Mutter.
    »Wenn du etwas Süßes willst, ich habe eine Tafel Schokolade auf dem Kühlschrank«, sagte sie.
    »Schokolade!«,

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