Im Tal der Sehnsucht
war der Ausschnitt betont tief, und der weich fließende Rock berührte fast den Boden. Es handelte sich um echte Haute Couture und schrie förmlich danach, getragen zu werden.
Doch als was wollte sie erscheinen? Als Femme fatale oder Frühlingsnymphe? Am Ende entschied Leona sich für die Nymphe, die besser zu ihrem Typ passte. Da hatte Bea recht. Sexy genug war auch dieses Kleid, und sie wollte auf keinen Fall übertreiben.
Für Rupert war und blieb sie die „süße kleine Leona“, und für Boyd … Es war erst Stunden her, dass er sie geküsst hatte. Auch wenn er das nie wieder tat, würde sie sich bis an ihr Lebensende daran erinnern und davon zehren. Hieß es nicht immer, dass jeder Mensch nur einmal die große Liebe erleben durfte? Das war hoffentlich ein Irrtum.
Leona erregte Aufsehen, als sie auf ihren hochhackigen Sandaletten und von Chiffon umschmeichelt den Großen Salon betrat. Einer der vielen Cousins, Peter Blanchard, begrüßte sie sogar mit offener Bewunderung. Sie kannte ihn seit ihrer Kindheit. Er hatte sie oft ausgeführt, und sie mochte ihn sehr. Er sah gut aus, war intelligent und charmant. Außerdem hatte er mehrere akademische Titel erworben. Als Familienmitglied arbeitete er natürlich ebenfalls für das Unternehmen der Blanchards.
Leider konnte er sich in keiner Hinsicht mit Boyd messen. Noch während Peter sie begrüßte, spürte Leona den bohrenden Blick von der anderen Seite des Zimmers. Das Atmen wurde ihr schwer, und es kam ihr vor, als wäre das Chiffonkleid plötzlich durchsichtig geworden. Boyd stand mit seinem Vater vor dem weißen Marmorkamin, über dem ein wertvoller englischer Spiegel aus dem achtzehnten Jahrhundert hing. Beide Männer waren etwa gleich groß und strahlten dieselbe bezwingende Energie aus.
Im Sommerhalbjahr, wenn nicht geheizt wurde, stand eine große chinesische Porzellanvase voller Blumen und Zweige im Kamin. Heute Abend war sie mit Feuerlilien, langen Gräsern und Palmblättern dekoriert. Wie Leona nebenbei feststellte, passten die goldgefleckten Blüten farblich genau zu ihrem Kleid.
Geraldine saß auf einem der damastbezogenen Sofas und winkte sie zu sich. Sie trug Violett, ihre Lieblingsfarbe, die ideal mit ihren majestätischen Ohrgehängen aus Brillanten und Amethysten harmonierte. Tonya, stellte Leona fest, hatte sich halb abgewandt, als wäre ihr „Bühnenauftritt“ vollkommen uninteressant für sie. Sie hielt ein Champagnerglas in der Hand und sah in ihrem kurzen fuchsienroten Abendkleid sehr schick aus. Vor allem die weiblichen Gäste hatten sich mit ihrem Aussehen große Mühe gegeben. Nur Simons Freundin Emma trug ein schlichtes blaues Kleid – allerdings so natürlich und selbstsicher, dass es an ihrer Stellung in der Gesellschaft keinerlei Zweifel geben konnte.
Jinty hatte als Hausherrin den Vogel abgeschossen. Sie sticht alle anderen aus, dachte Leona, als die Gastgeberin auf sie zugeschwebt kam. Sie trug ein schulterfreies schwarzes Satinkleid, das ihren üppigen Busen fast zu stark betonte. Ihr volles blondes Haar war kunstvoll hochgesteckt, was auf einen eigens bestellten Meistercoiffeur schließen ließ. Alles war so berechnet, dass das Prunkstück, die berühmten Blanchard-Brillanten, voll zur Geltung kam.
Vielleicht würde sogar die Queen bei ihrem Anblick neidisch werden, überlegte Leona. Alle Stücke – Collier, Ohrgehänge und Armband – waren aus lupenreinen Diamanten gearbeitet. Die komplette Garnitur war seit der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert im Besitz der Familie. Ein Vorfahre hatte sie von einem südafrikanischen Milliardär gekauft, und sie stammten aus der berühmten Mine, deren Entdeckung noch auf Cecil Rhodes zurückging. Der Schmuck hatte also eine Geschichte.
Leona kannte die berühmten Diamanten. Das letzte Mal hatte Alexa sie anlässlich eines festlichen Balls angelegt. Jinty trug meistens nur die Ohrringe und manchmal das Armband. Mit dem Collier hatte sie sich bisher noch nicht gezeigt. Der Tradition gemäß durfte nur die Ehefrau des Familienoberhaupts den Schmuck tragen. Jinty konnte also nur vorübergehend damit paradieren, was ein Segen war. Falls sie sich von Rupert trennte, bekäme sie eine Abfindung in Millionenhöhe, aber die Blanchard-Diamanten müsste sie zurücklassen.
„Du siehst hinreißend aus“, sagte Leona, als Jinty sie begrüßte. Und das war nicht übertrieben.
„Vielen Dank, Liebes.“ Jinty freute sich über das Kompliment. „Mit den Diamanten komme ich mir wie eine Göttin
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