Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
und das sprach ja dafür, dass ihre Liebe irgendwann verloren gegangen war. Warum sollte das plötzlich anders sein? Sie waren gute Freunde, mehr nicht. Ryan hatte ihr erzählt, dass er bei Debbie hatte wohnen dürfen, damals, kurz bevor er ins Gefängnis musste, weil sein Geld nicht für eine eigene einigermaßen anständige Wohnung gereicht hatte. Debbie hatte sich um ihn gekümmert. Jetzt kümmerte er sich um sie. Das war normal. Immerhin hatte sie ihn nicht einmal im Gefängnis besucht. Das sprach nicht gerade für das Vorhandensein großer Gefühle, die jederzeit wieder aufflammen konnten.
Nora beschwichtigte ihre Ängste, aber es gelang ihr nicht, sie zu überwinden. Gern hätte sie mit irgendjemandem über all das gesprochen, aber die Freunde und Kollegen, allen voran Vivian, schieden aus, weil sie ihr natürlich mehr oder weniger deutlich gesagt hätten: Siehst du? Haben wir es nicht prophezeit? Was hast du eigentlich geglaubt, als du dir einen Strafgefangenen geangelt hast? Dass du einen erwischst, der deine Heile-Welt-Träume mit dir teilt?
Niemals würde sie zugeben, dass es große Probleme für sie gab. Probleme, die seit Anfang der Woche noch massiver geworden waren. Denn am vergangenen Montag war Ryan selbst für seine Verhältnisse ungewöhnlich spät nach Hause gekommen, und Nora hatte diesmal nicht an sich halten können.
»Warst du wieder bei ihr?«, hatte sie gefragt. »Warum bleibst du eigentlich nicht gleich die ganze Nacht? Sicher hätte sie nichts dagegen, wenn du ihr bis in die frühen Morgenstunden das Händchen hältst und ihren Schlaf bewachst .«
Normalerweise wäre er über eine solche Bemerkung wütend geworden, hätte sich ihre Einmischung verbeten. Doch an jenem Abend, in jener Nacht hatte er nichts erwidert, war nur auf einen Stuhl gesunken und dort bewegungslos sitzen geblieben, ein Zittern in den Händen, das er nicht kontrollieren konnte. Sie hatte begriffen, dass etwas vorgefallen war, irgendetwas sehr Ernstes, das vielleicht gar nichts mit Debbie zu tun hatte. Sie hatte vor ihm gekauert, ihn angeschaut, ihn gebeten, um Gottes willen zu sagen, was los war.
Und dann hatte er es erzählt.
Von den beiden Typen, die ihn zu Damon gebracht hatten. Von den fünfzigtausend Pfund. Von der Frist, die ihm blieb. 30. Juni.
»Von dem Tag an«, hatte er gesagt, »ist mein Leben keinen Pfifferling mehr wert.«
Nach allem, was sie seit der Reise nach Yorkshire bereits über Damon wusste, hatte Nora sofort verstanden, dass er nicht übertrieb.
Sie zuckte zusammen, als Vivian mit lauter Stimme wiederholte: »Was ist? Kommt ihr morgen? Du und Ryan?«
Nora nahm ihre Tasche. »Nein. Wahrscheinlich besuchen wir Ryans Mutter über das Wochenende. Oben in Yorkshire.«
»Wie schade«, sagte Vivian.
Nora zuckte mit den Schultern. Vivian hatte sich noch nicht fertig umgezogen. Sie war etwas gehandicapt, seit sie in der Woche zuvor beim Training auf dem Laufband mit dem Fuß umgeknickt war. Der Arzt hatte eine Zerrung festgestellt, und nun wollte der Knöchel nicht abschwellen, schmerzte und verhinderte, dass Vivian in normale Schuhe passte. In früheren Zeiten hätte Nora ihr beim Ausziehen der Strümpfe geholfen und geduldig gewartet, bis sie fertig war, nun aber verließ sie mit einem gemurmelten Abschiedsgruß den Umkleideraum und dann auch mit schnellen Schritten das Krankenhaus. Nach dem langen Aufenthalt in den klimatisierten Räumen traf sie die Hitze draußen wie ein Schock. Es mussten an die dreißig Grad sein. Sie schaute auf die Uhr. Kurz nach vier. Freitags kam sie meist früher los. Ihr letzter Patient war eine Calcaneus-Fraktur gewesen, eine gebrochene rechte Ferse. Ein anstrengender Mann. Missglückter Selbstmordversuch, keine Seltenheit bei dieser Art von Verletzung. Die Leute versuchten, sich aufzuhängen, aber der Strick löste sich oder die Verankerung, an der er befestigt war, hielt nicht, und sie rauschten in die Tiefe. Kamen senkrecht auf, meist mit einem Bein zuerst, und dann war die Ferse zertrümmert. Operation und langwierige Heilgymnastik folgten. Niemand riss sich um die gescheiterten Selbstmörder, und meist wurden sie Nora zugeteilt. Sie hatte den Ruf, einfühlsam mit diesen Menschen umgehen zu können und ihnen neben der Physiotherapie auch gleich noch eine Seelenmassage zu bieten.
»Nora hat eben ein Helfersyndrom«, sagten die Kollegen oft.
Wahrscheinlich stimmte das. Wahrscheinlich hatte diese Ader in ihr sie auch dazu gebracht, eine Brieffreundschaft mit
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