Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
sich kaum etwas vormachen: Es war ihre Pflicht, zur Polizei zu gehen. Und alles zu sagen, was sie wusste.
Und dann gab es noch diese Stimme, die unaufhörlich in ihr Ohr wisperte: Du hast dich getäuscht, Nora! Du hast dich gründlich in Ryan geirrt! Haben dich nicht alle gewarnt? Allen voran deine Freundin Vivian, die du dafür gehasst hast. Sie hat immer gesagt, dass du zu wenig von ihm weißt und dass es eine Menge gibt, was er dir vermutlich verschweigt. Du wolltest den netten, labilen Jungen in ihm sehen, der zwar ständig mit dem Gesetz in Konflikt gerät, der aber im Grunde seines Wesens ein anständiger Kerl ist. Der einfach nur eine starke Frau an seiner Seite braucht, eine Beschützerin, und dann kommt alles in Ordnung. Wie konntest du das alles als Lappalie sehen? Sein Vorstrafenregister? Die Kneipenschlägerei, bei der ein junger Mann so schwer verletzt wurde, dass er daran hätte sterben können? Alles halb so wild, alles nicht seine Verantwortung. Wie naiv warst du?
Oder: wie bedürftig?
Und jetzt, Nora? Willst du damit fortfahren? Ihn für schuldunfähig erklären und beide Augen zudrücken? Diese Sache mit Vanessa Willard hat eine verdammt andere Dimension als alles bisherige, das weißt du genau. Entführung, Freiheitsberaubung, geplante Erpressung, am Ende Mord. Selbst wenn sie sich befreien konnte, was unwahrscheinlich genug erscheint, dann bleibt ganz klar bestehen, dass er ihren Tod mehr als billigend in Kauf genommen hat. Ihren qualvollen Tod. Dafür geht er richtig lange ins Gefängnis. Und zwar zu Recht.
Willst du weiter mit ihm leben, als ob nichts geschehen ist? Ach, und, Nora, vergiss Damon nicht. Und die fünfzigtausend Pfund. Damon wird nicht taktvoll in den Hintergrund treten, nur weil Ryan gerade ein noch größeres Problem zu bewältigen hat. Damon wird am 30. Juni auf der Matte stehen, und es ist fraglich, ob sich seine Inkasso-truppe dann damit zufriedengibt, nur an ihm ein Exempel zu statuieren. Vielleicht erwischt es dich genauso. Du hast dich mit einem Kriminellen eingelassen. Und wenn du nicht blitzschnell die Kurve kriegst, landest du selbst genau dort, im kriminellen Milieu. Ein schönes Bild, die starke Frau, die den gestrauchelten Mann hinauf ans Licht zieht, aber wie es gerade aussieht, zieht der gestrauchelte Mann die starke Frau stattdessen hinunter in die Hölle.
Warum hast du dir nie überlegt, dass auch diese Variante eintreten kann?
Wegen der Feierlichkeiten zum diamantenen Thronjubiläum der Queen begann die neue Woche erst am Mittwoch. Obwohl sich das überlange Wochenende besonders gut für eine Reise nach Yorkshire geeignet hätte, war Nora nicht mehr darauf zurückgekommen. Sie und Ryan waren beide in eine Art Schockstarre gefallen, was nicht dazu angetan war, ihre zahlreichen Probleme auch nur ansatzweise zu lösen, aber keiner von beiden fand die Kraft, die Dinge anzugehen, nicht einmal die bodenständige, praktische Nora. Sie hatte mehrere Nächte hintereinander fast überhaupt nicht geschlafen, und als sie im Krankenhaus erschien, musterte Vivian sie mit dem Ausdruck echter Bestürzung im Gesicht.
»Bist du krank, Nora? Du siehst erschreckend schlecht aus. Hast du Sorgen?«
»Nein«, sagte Nora und wandte sich ab. Außer dass mein Leben gerade völlig entgleist, aber das Schlimmste ist, ich kann mit niemandem darüber sprechen. Ich kann mir nirgends Rat und Hilfe holen. Wem auch immer ich diese Geschichte mit Vanessa Willard erzähle, fällt erst in Ohnmacht und rennt, kaum daraus erwacht, zur Polizei.
Sie hatte einen Patienten nach dem anderen an diesem Morgen, kam kaum dazu, zwischendurch ein paar Schlucke Tee zu trinken oder wenigstens tief durchzuatmen, aber vielleicht war das ganz gut so. Zum Glück war sie professionell genug, die jeweiligen Übungsprogramme routiniert abspielen zu können, während sie mit ihren Gedanken ganz woanders weilte. Zwei der Patienten sprachen sie ebenfalls auf ihr krankes Aussehen an, aber sie wiegelte ab.
»Ich schlafe zurzeit ein bisschen schlecht. Das habe ich manchmal. Wird schon wieder.«
In der Mittagspause blieb sie im Umkleideraum, während die anderen mit Sandwiches und Kaffee in den Garten gingen. Es war ein trockener, etwas windiger, schöner Tag. Nora hoffte, es würde niemandem auffallen, dass sie zurückblieb. Sie wollte keine besorgten Fragen mehr hören. Es gab nichts, was sie darauf hätte antworten können.
Sie hatte sich gerade zurückgelehnt und den Deckel ihrer Thermoskanne mit Tee
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