Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
hatte Nora zwar den Weg beschrieben, aber sie hatte sich das wahrscheinlich nicht so genau merken können. Dieser Umstand hatte dann Zeit gekostet und alles erschwert.
So musste es gewesen sein.
Harry kam in die Küche, ausgemergelt und unattraktiv wie immer, intensiv nach seinem Duschgel duftend und gut gelaunt. »Guten Morgen, Ryan. Hast du die Zeitung?«
»War keine da«, sagte Ryan.
»Hm. Na ja, kann man nichts machen.« Harry setzte sich, schenkte sich Kaffee ein, strich Butter auf eine Toastscheibe und gab reichlich Marmelade darauf. Er sah Ryan an, der an seinem Kaffee nippte. »Keinen Hunger?«
»Nicht so richtig. Vielleicht später.«
»Ich habe gerade in meinen Kalender gesehen«, sagte Harry. »Ich habe heute um zehn Uhr eine Patientin.«
In deinen Kalender gesehen, dachte Ryan verächtlich. Auf die eine Patientin in dieser Woche lebst du wahrscheinlich seit Tagen hin, aber vor mir tust du jetzt so, als hättest du das eben festgestellt. Für wie blöd hältst du mich?
Laut sagte er jedoch: »Wie schön. Hoffentlich jemand, der dann öfter kommen wird.«
»Ja, das wäre nicht schlecht. Hör mal, Ryan, ich hoffe, du bist mir nicht böse, aber …« Er zögerte.
Will er mich rauswerfen?, fragte sich Ryan. Weil er heute andere Unterhaltung hat?
»Es ist nur … Könntest du in der Zeit dann oben bleiben?«, fragte Harry. »Wenn die Patientin da ist, meine ich. Weil, also … die Leute denken schnell … na ja, bei zwei Männern in einem Haus … Du verstehst schon.« Er sah ihn bittend an. »Manche stören sich vielleicht daran.«
»Du meinst, man könnte dich für schwul halten? Okay, kein Problem. Ich bleibe oben.« Ryan kam das durchaus gelegen. Vielleicht hatte die Patientin das Frühstücksfernsehen angeschaut. Es war besser, wenn sie ihn nicht zu Gesicht bekam.
Harry hatte aus dem kleinen, nach hinten zum Garten führenden Wohnzimmer des geerbten Häuschens seinen Praxisraum gemacht, ausgestattet mit einer komplizierten verstellbaren Liege und einer Reihe von Geräten, für deren Erwerb er einen Kredit hatte aufnehmen müssen. In dem noch kleineren Esszimmer daneben befand sich der Warteraum, in dem nie jemand wartete. Trotzdem standen dort dicht gedrängt sechs Stühle, und es lagen jede Menge Zeitschriften aus. Im ersten Stock des Hauses gab es ein Bad und zwei Schlafzimmer. In dem vorderen schlief Harry, das andere fungierte als Wohnzimmer und war vollständig zugestellt mit einer Couch, einem Tisch und zwei behäbigen Sesseln. Es war ein Kunststück, bis zum Fenster vorzudringen. Auf der Couch nächtigte derzeit Ryan.
»Toll, das ist nett. Danke für dein Verständnis«, sagte Harry erleichtert.
»Ist doch klar«, sagte Ryan. Er überlegte, ob er die Stunde, in der Harry vollauf beschäftigt sein würde, nutzen sollte. Um endlich abzuhauen.
Nur, verdammt noch mal, wohin ?
Zwei Stunden später saß er oben im Wohnzimmerund dachte noch immer über diese Frage nach, als es an der Haustür klingelte. Er konnte hören, dass Harry aus seinem Praxisraum kam und dann eine Weile unten im Gang verharrte, um auf keinen Fall den Eindruck zu erwecken, er könnte es eilig haben. Dann wurde die Tür geöffnet.
»Hallo, hallo«, sagte Harry übertrieben fröhlich. »Nur immer hereinspaziert!«
»Meine Güte, mein Navi ist kaputt, und deine Wegbeschreibung hat mir wirklich kein bisschen geholfen«, entgegnete eine weibliche Stimme. »Ich bin ewig herumgekurvt!«
Die Stimme kam Ryan irgendwie bekannt vor. Er erhob sich aus seinem Sessel, schlich zur Tür und lauschte.
»Komm, wir fangen gleich an«, sagte Harry.
Die Frau schien es nicht so eilig zu haben. »Lass mich doch erst mal schauen, wie es hier bei dir so aussieht. Ah, das ist die Küche? Gemütlich.«
Harry und die Frau schienen alte Bekannte zu sein. Ryan verzog das Gesicht. Deshalb wollte Harry unbedingt, dass Ryan oben blieb. Er sollte nicht merken, dass es sich bei der ersten – und vermutlich einzigen – Patientin dieser Woche um eine Freundin handelte, die wahrscheinlich aus reinem Mitleid kam.
Wenn er nur wüsste, wo er die Stimme schon einmal gehört hatte! Sein Herz pochte plötzlich schneller. Wenn die Frau dort unten ihn, Ryan, ebenfalls kannte, bestand höchste Gefahr.
»Wollen wir nicht anfangen?«, fragte Harry. »Wir sollten keine Zeit verlieren. Du musst doch sicher danach zurück zur Arbeit?«
»Ich habe mir den ganzen Tag freigenommen. Ich will endlich mal alles erledigen, wozu ich sonst nicht komme. Friseur,
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