Im Tal des Schneeleoparden
er hätte meinen Vater gekannt.«
»Wie bitte?«
»Er kannte Sylvain Meunier«, wiederholte Anna, irritiert über Achim Bendigs heftige Reaktion.
Achim Bendig wiegte seinen kantigen Kopf auf dieselbe Art hin und her, wie Anna es schon bei den Indern und Nepalesen beobachtet hatte. »Hat er das gesagt? Dann sage ich Ihnen: Seien Sie froh, dass er Sie versetzt hat. Der Herr der Vögel ist mehr als ein schräger Vogel, und ich habe mich schon oft gefragt, ob er jemand anderes ist, als er vorgibt zu sein. Manchmal verschwindet er für Monate von der Bildfläche, taucht dann wie ein Springteufel wieder auf dem Durbar-Platz auf und unterbreitet den Menschen seine Theorien über Jesus’ Indienreise. Ich habe ihm ein paarmal zugehört und erst gedacht, er sei einer dieser durchgeknallten Alt-Hippies, die zu viele Drogen konsumiert und, wie Anita, den Weg nach Hause nicht mehr gefunden haben. Aber ich musste mich korrigieren. Er ist schlau. Ich glaube, sein Asketengetue ist eine Tarnung.«
»Aber wofür?«, fragte Anna verblüfft.
Achim Bendig zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht, und im Grunde interessiert es mich auch nicht. Aber lassen Sie uns den unheiligen Heiligen vergessen und verraten Sie mir stattdessen, warum Sie mich gesucht haben.«
»Das werde ich gleich tun, aber beantworten Sie mir doch bitte noch eine Frage: Kannte der Sadhu meinen Vater? Kannte er Bärbel? Es machte auf mich durchaus den Eindruck.«
»Das kann ich Ihnen nicht beantworten. Wenn ich mich recht entsinne, ist er erst Jahre nach Sylvains tragischem Tod in Kathmandu aufgekreuzt. Ich kann mich natürlich irren, zumal ich Ihre Eltern ja nicht überwacht habe. Es ist gut möglich, dass sie Freunde hatten, von denen ich nichts wusste. Aber fragen Sie doch einfach Ihre Mutter.«
»Das geht leider nicht mehr«, sagte Anna und knetete ihre Finger. »Sie ist tot.«
Achim Bendig verschlug es die Sprache.
Anna ergriff seine Hand. »Vor anderthalb Jahren«, sagte sie, weil ihr nichts Besseres einfiel. »Ein Unfall.« Sie stockte. Wie konnte sie einem Mann Trost spenden, der vor ihrer Geburt in ihre Mutter verliebt gewesen war? Die Situation hatte etwas Absurdes.
Achim Bendig schien dasselbe zu fühlen. Er drückte Annas Hand und ließ sie dann los. »Sie brauchen mehr Zuwendung als ich, nehme ich an«, sagte er. »Es ist ein Schock. Ich sehe Babsi noch immer so vor mir, wie ich Sie jetzt vor mir sehe.« Er räusperte sich. »So jung, so voller Freude auf die Zukunft. Das ist natürlich Unsinn. Auch Babsi ist älter geworden.« Wieder wiegte er seinen Kopf auf jene indische Weise, die sowohl Zustimmung als auch Ablehnung bedeuten konnte. Oder Verunsicherung: Ein hilfloses Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ich hatte gehofft, Sie bringen mir Grüße von Ihrer bezaubernden Mutter. Oder die Nachricht, dass sie es sich doch noch anders überlegt hat und mich heiraten will.« Das Lächeln verschwand und machte einer müden Traurigkeit Platz. »Sie müssen mir mehr erzählen«, sagte er leise.
»Das hatte ich vor. Und im Gegenzug wünsche ich mir von Ihnen, dass Sie mir vom Tod meines Vaters berichten.« Sie schluckte. »Wenn es Ihnen möglich ist.«
Hatte er sie gehört? Für eine Weile studierte er das Bild einer vielarmigen Göttin an der Wand neben ihrem Tisch. Dann atmete er tief durch. »Es ist mir möglich. Ich habe lange Jahre nicht daran gedacht, oder, besser gesagt, versucht, nicht daran zu denken, aber wenn jemand ein Recht darauf hat, alles zu erfahren, sind Sie es.«
»Danke.«
Er wechselte abrupt das Thema. »Haben Sie schon gegessen? Ach nein, Ihr Mahl ist ja in Anitas Bauch verschwunden. Umso besser. Ich bin nämlich mit dem festen Vorsatz hergekommen, Sie zu entführen.«
»Ach?« Anna ging erleichtert auf seinen lockeren Ton ein. »In welches Verlies wollen Sie mich denn verschleppen?«
»Das müssen Sie schon selbst herausfinden. Ich verrate nur so viel: Es liegt zwanzig Gehminuten von hier, und meine Frauen haben sich richtig ins Zeug gelegt, als sie hörten, es käme ein Gast aus Deutschland.«
»Dann nichts wie hin«, sagte Anna lächelnd und erhob sich. Sie schnappte sich ihre Fleecejacke und zog sie über. »Voilà. Ich bin ausgehfein.«
»Und ich bin beeindruckt. Kein Make-up, kein Geschmeide?«
»Besitze ich nicht.«
»Jetzt kennt meine Bewunderung keine Grenzen mehr. Sie haben Ihrer Schönheit nicht nachgeholfen?«
»Hören Sie sofort auf, Süßholz zu raspeln«, sagte Anna in gespieltem Ärger. Insgeheim
Weitere Kostenlose Bücher