Im Tal des Schneeleoparden
dem antiken Tisch und einem geschmackvollen Sammelsurium aus ebenfalls alten Stühlen war der Raum beinahe leer, lediglich zwei Silberleuchter mit Platz für mindestens zwanzig Kerzen flankierten den Tisch. Auch die Wände waren bis auf die prachtvolle Schnitzerei eines Pfaus schmucklos.
Anna wusste bereits, dass sich diese puristische Zurückhaltung in den angrenzenden, ebenfalls von Kerzen erleuchteten Räumen fortsetzte – bevor die Frauen zum Essen riefen, hatte Achim sie einmal durch das erste und, wie er augenzwinkernd bemerkte, den offiziellen Anlässen vorbehaltene Stockwerk geführt. Es gab keine Flure, ein Zimmer ging in das andere über, mit Fenstern zu beiden Seiten, wo das Haus nicht an ein Nachbarhaus stieß. Durch die spärliche Möblierung wirkten die Räume wie eigenständige Kunstwerke. In jedem Raum befand sich unter den Fenstern eine eingebaute, sich von Wand zu Wand erstreckende Bank, belegt mit zahllosen Seidenkissen, deren Farben von Raum zu Raum variierten: Herrschten in einem Zimmer die Schattierungen von Pink über Orange bis Rot vor, so überraschte das nächste mit einer Symphonie in Violett, das übernächste war grün gehalten, und zu Annas Entzücken gab es auch einen Raum in Türkis- und Blautönen. Wenige weitere Gegenstände schmückten die Räume: chinesische Kommoden, Statuen aus Holz und Stein, verwitterte, auf wurmstichige Holzplanken aufgebrachte Malereien, Thankas – es war eine Augenweide. Wären die Kissen nicht gewesen, hätte sie sich in ein Museum versetzt gefühlt, so aber strahlten die durchweg kleinen Räume erstaunliche Behaglichkeit aus. Als letzte Überraschung hatte Achim Anna das Badezimmer gezeigt, einen modernen, vor Sauberkeit blitzenden hellblauen Raum mit Wanne, WC und Duschkabine. Anna war überwältigt. Dann hatte das helle Gebimmel einer Glocke sie zurück ins Esszimmer gelockt.
Während des Essens redeten fast nur Anna und Achim. Seine Frau und Tochter sprachen weder Deutsch noch Englisch, überboten sich dafür gegenseitig in ihrer Aufmerksamkeit, bis Anna sie daran hindern musste, ihr immer wieder den Teller aufzufüllen.
»Achim, bitte sage ihnen, dass ich gleich platze.«
Achim grinste und sprach mit seinen beiden Frauen, wie er sie gern nannte. Die ältere kicherte, während die junge, eine Schönheit von etwa zwanzig Jahren, weiterhin ernst blieb. Anna fiel auf, dass die junge Frau rotgeweinte Augen hatte.
»Es geht mich wahrscheinlich nichts an«, sagte sie, zu Achim gewandt, »aber ist Sapana traurig? Sie ist so zurückhaltend.«
»Oh, du hast es natürlich gemerkt, dabei hat sie sich solche Mühe gegeben, die Stimmung nicht zu trüben. Sie ist tatsächlich traurig, und wahrscheinlich würde sie mir die Augen auskratzen, wenn sie wüsste, dass ich dir den Grund verrate.«
»Dann lass es sein«, sagte Anna mit einem Seitenblick auf Sapana, die mit dem Löffel in ihrem Essen herumrührte, ohne einen Bissen zum Mund zu führen.
Achim strich zärtlich über Sapanas Haar. »Sie hat Liebeskummer. Der junge Mann, den sie gern heiraten möchte, hat vor wenigen Tagen beschlossen, sich den Rebellen anzuschließen. Du kannst dir vorstellen, dass sie vor Angst vergeht.«
»Kannst du ihn nicht umstimmen?«
»Zu spät, er ist schon fort. Ich hoffe nur, er besinnt sich, bevor etwas Schreckliches passiert.« Er seufzte. »Ich möchte Sapana die Wahl ihres Ehemanns überlassen, aber manchmal habe ich das Gefühl, es wäre gar nicht so schlecht, wenn ich mich nach der nepalesischen Tradition richtete und ihr einen aussuchte. Es wäre jedenfalls weniger kompliziert.«
»Das meinst du nicht ernst! Verheiratet zu werden ist doch furchtbar.«
»Nicht unbedingt.« Er lachte. »Nun mach nicht solch ein entsetztes Gesicht. Ich habe gescherzt. Wie sieht es aus, wollen wir ins türkisfarbene Zimmer gehen und über alte Zeiten reden? Ich habe den Eindruck, dass Brinda und Sapana sich gern zurückziehen würden. Es ist langweilig, wenn man nichts versteht.«
Anna bedankte sich bei den Frauen und folgte Achim durch die Zimmerflucht. Nachdem sie es sich auf den Kissen bequem gemacht hatte, brachte Achim ihr eine Wolldecke und zauberte eine Flasche echten schottischen Whisky und zwei schwere Gläser aus der chinesischen Kommode.
Anna hob das Glas und prostete Achim zu. »Darf ich eine indiskrete Frage stellen? Wie kann man in Nepal genug Geld verdienen, um sich dieses Haus und seine Renovierung leisten zu können? Mal ganz abgesehen von den schönen
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