Im Tal des Schneeleoparden
ziehen zu lassen kostete mich Überwindung. Wir hatten so viel zusammen erlebt und durchgestanden, sie war diejenige, auf die ich mich verlassen konnte.« Seine Stimme war immer leiser geworden.
»Hättest du Ingrid denn nicht überreden können, mit nach Kathmandu zu reisen?«
Achims blaue Augen blitzten belustigt. »Machst du Witze? Du hast sie doch kennengelernt und solltest es besser wissen: Wenn sich Ingrid etwas in ihren Dickschädel setzt, dann zieht sie es auch durch.«
»Das stimmt allerdings«, bestätigte Anna und dachte daran, wie Ingrid um und für Kim gekämpft hatte. Sie war eine bemerkenswerte Frau.
»Ingrid ist eine bemerkenswerte Frau«, sprach Achim ihren Gedanken laut aus. »Wer weiß, ob nicht doch noch ein Ehepaar aus uns geworden wäre, wenn sich unsere Lebenswege nicht getrennt hätten. Zu dem Zeitpunkt ahnte ich nicht, dass ich sie nie wiedersehen würde. Apropos: Du würdest mich glücklich machen, wenn du mir ihre Telefonnummer geben könntest. Es wäre schön, mit ihr über alte Zeiten zu quatschen.«
»Sie hat es mir verboten.«
»Ist das dein Ernst?«
»Ja, leider. Sie meinte, sie brauche keine Komplikationen in ihrem Leben.«
Achims Lächeln wurde noch breiter. »Schau einer an«, murmelte er. »Nach so langer Zeit befürchtet sie Komplikationen. Ich fühle mich geschmeichelt. Anna, darüber müssen wir morgen noch einmal sprechen.«
»Ehrlich gesagt, ich glaube, dass sie in Wahrheit gern von dir hören würde. Ihr habt vieles gemeinsam, sogar die Sache mit dem Adoptivkind. Ich werde sie anrufen und fragen, ob es ihr nicht doch recht wäre. Immerhin seid ihr beide glücklich verheiratet.« Sie lachte. »Wenn auch jeweils mit jemand anderem.«
»Eben.« Achim straffte sich. »Aber nun lass uns Ingrid für den Moment vergessen.«
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44
I ch habe euch beobachtet, und was ich sehe, gefällt mir nicht.«
»Wie bitte?«
Sylvain hatte Deutsch in der Schule gelernt, aber manchmal war sich Achim nicht sicher, ob er die Sprache gut genug beherrschte, um versteckte Anspielungen zu verstehen, also erklärte er: »Du und Babsi. Ich habe das Gefühl, zwischen euch ist nicht mehr alles in Ordnung.«
»Und wenn, was ginge es dich an?« Seinen pampigen Worten zum Trotz wirkte Sylvain verunsichert. Er traute sich offenkundig nicht, Achim ins Gesicht zu sehen und fixierte stattdessen das Langtang-Massiv in der Ferne, dessen scharfgezackte Gipfel wie ein weißglitzerndes Sägeblatt den Himmel bedrohten.
Achim legte dem Franzosen begütigend seine Hand auf die Schulter. »Es geht mich sehr wohl etwas an. Ich mache mir Sorgen, wenn ich auch gestehen muss, dass sie sich mehr auf Bärbel beziehen als auf dich. Ich will, dass es ihr gutgeht.«
Die Worte blieben in der Luft hängen. Achim wartete. Schließlich riss sich Sylvain von den Bergen los. Ein feines Lächeln hatte sich in sein Gesicht gestohlen. »Einen Freund wie dich hätte ich auch gern«, sagte er.
»Das hast du – wenn du es willst. Babsi und mich gibt’s nämlich nur im Doppelpack.«
Sylvains Lächeln verstärkte sich. »Ich habe nichts dagegen.« Dann streckte er sich lang im Gras aus. Achim sah ihm an, dass er nach Worten suchte, und ließ ihm Zeit.
»Ich liebe Babsi wie verrückt«, setzte Sylvain schließlich an, »trotzdem nimmt sie mir die Luft zum Atmen. Wenn es nach ihr ginge, würden wir jede Sekunde des Tages miteinander verbringen. Aber ich brauche auch Zeit für mich, Zeit, um zum Beispiel eine Wanderung zu unternehmen, wie wir es gerade tun.«
»Aber du bist doch hier, ohne sie. Und als wir vorgestern aus Kathmandu aufgebrochen sind, hat sie gelacht und uns schöne Tage gewünscht.«
»Sie zwingt sich zum Lachen. Sie lässt mich gehen, um mich nicht zu verlieren. Verstehst du, was ich meine?«
»Allerdings«, brummte Achim und stützte sich rücklings auf seine Ellbogen.
»Sie ist entsetzlich unselbständig und klammert sich mit aller Macht an mich. Stell dir bloß vor, mir würde etwas zustoßen. Was dann?«
»Daran möchte ich gar nicht denken. Babsi wäre am Boden zerstört. Sieh also gefälligst zu, dass dir nichts passiert. Ich würde es übrigens auch ziemlich blöd finden«, fügte Achim hinzu. Er kannte Sylvains düstere Seite und hatte keine Lust, an diesem schönen Tag über den Tod zu sprechen. An diesem Tag nicht und an keinem anderen. Der Tod konnte ihn mal.
»Sterben ist leicht«, beharrte Sylvain. »Ein Fingerschnippen der Götter, und das war’s. Egal ob ich mir eine Krankheit
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