Im Tal des Schneeleoparden
durchaus möglich, dass Moon Sylvains schweigsame Art als Arroganz missdeutet hatte. Was für ein Dilemma. Und Sylvains letzte Äußerung war nicht gerade dazu angetan gewesen, die Wogen zu glätten. Er musste sich Sylvain zur Brust nehmen, wenn sie nicht den Rest ihrer Wanderung in mieser Stimmung verbringen wollten.
Die nächsten Tage verliefen ohne Zwischenfall. Sylvain und Moon gaben sich Mühe, und bald gingen die beiden wieder entspannt und freundschaftlich miteinander um. Gutgelaunt marschierte die kleine Gruppe durch Laubwälder und entlang gelbblühender Senffelder und erreichte schließlich das Tal des Daraundi Khola. Angeschwollen durch die bereits einsetzende Schneeschmelze in den höheren Regionen, schäumte der eisblaue Fluss Indien und dem Ganges entgegen. Stark verästelte Seitenarme verwandelten den gesamten Talboden in ein glitzerndes Labyrinth. Eine Brücke war weit und breit nicht zu sehen. »Gibt es eine Furt?«, fragte Achim.
Moon wies nach Norden. »Weiter oben«, sagte er. »Vielleicht ist die Winterbrücke noch intakt, vielleicht nicht. Aber wir werden es schon schaffen.«
Den ganzen Nachmittag führte ihr Weg sie entlang des Flusses. Immer wieder passierten sie kleine Dörfer, so vollständig von allen Vorzügen und Nachteilen der modernen Welt abgeschnitten, dass sich Achim um Jahrhunderte zurückversetzt fühlte. Kein Strom, kein fließendes Wasser, oft nicht einmal ein Abort. Büffel, die die Arbeit von Maschinen verrichteten, und Menschen, die schufteten wie die Büffel. Und trotzdem lachten sie. Wollten sich ausschütten vor Lachen, sobald die erste kurze Scheu verflogen war, kicherten über Achims von der Tageswärme und Anstrengung verschwitztes Gesicht, seine falsch ausgesprochenen nepalesischen Grüße und seine langen, von der starken Bergsonne ausgeblichenen Haare. Er mochte die Menschen sehr.
Die Nacht verbrachten sie in einer einfachen Herberge, und am nächsten Morgen verabschiedete sich Ganesh. Sein Dorf lag diesseits des Flusses, nur einen Tagesmarsch entfernt aufwärts. »Wenn ihr bei Moons Eltern angekommen seid, winkt mit einer Decke. Ich wohne genau gegenüber«, scherzte er, nahm sein schweres Gepäck auf, in dem sich bescheidene Geschenke für seine Eltern und Geschwister, Onkel, Tanten, Nichten und Neffen verbargen, und zog los. Achim sah ihm nach, bis er hinter einer Felsnase verschwand. Ganesh war ein angenehmer Begleiter gewesen, ruhig und besonnen, im Gegensatz zu Moon, dessen aufbrausendes Wesen mehr als einmal für Unruhe in ihrer kleinen Gemeinschaft gesorgt hatte.
Nachdem sie ihre Rechnung beglichen hatten, schulterten auch Achim, Sylvain und Moon ihr Gepäck und verließen die Herberge. Etwa einen Kilometer jenseits des Dorfes senkte sich der Sommerpfad wieder dem Flussbett entgegen. Der Hauptstrom des Daraundi Khola war an dieser Stelle sehr breit, mit einigen Seitenarmen. Schon von oben hatte Achim gesehen, dass sich hier und da große, zum Teil mit Baumstämmen verbundene Felsen über das Wasser erhoben. Das Ganze machte weder von weitem noch aus der Nähe einen sonderlich vertrauenserweckenden Eindruck, und auch das Wasser schoss schneller zu Tal, als ihm lieb war, aber laut Moon bestand an dieser Stelle die einzige Möglichkeit, ans andere Ufer zu gelangen.
»Wenn es den Nepalesen reicht, werden wir es auch schaffen«, sagte Sylvain und erkletterte die erste Baumstammbrücke. Mit einem Fuß prüfte er die Festigkeit des Stammes und überquerte ihn dann mit vier, fünf beherzten Schritten. »Halb so wild!«, rief er grinsend und sprang auf den kieseldurchsetzten Sand auf seiner Seite des Nebenarms.
Achim und Moon taten es ihm nach, und die folgenden Wasserläufe überwanden sie ebenfalls ohne Schwierigkeiten, wenn auch mit nassen Schuhen. Das Unglück ereignete sich erst beim Hauptstrom. Angespornt durch Sylvains Lässigkeit, war Moon immer sorgloser von einem Stein zum anderen gesprungen und hatte das andere Ufer, wo Sylvain mit einem triumphierenden Lachen auf ihn und den vorsichtigeren Achim wartete, fast erreicht, als er auf einem glatten Stein ausrutschte. Achim verlor beinahe selbst den Halt, als er Moons entsetzten Aufschrei hörte. Er sah ihn gerade noch mit den Armen rudern, dann stürzte der Nepalese in das brodelnde Wasser und verschwand, keine fünf Meter von Sylvain entfernt.
Nach einer Schrecksekunde ließ Achim alle Vorsicht außer Acht. Angetrieben von seinem Entsetzen, hastete er über die glatten Felsen und Baumstämme, doch er
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