Im Tal des Schneeleoparden
zuhauf auf Weihnachtsmärkten und in Dritte-Welt-Läden fand. Und doch unterschied sich der Anhänger von dem üblichen Tand: Er war größer, bestimmt sieben oder acht Zentimeter lang, und wirkte solider, vor allem aber war die Anordnung der Steine ungewöhnlich, die sich an einer S-förmigen Linie über die ovale Silberplatte zogen. Anna ließ den Anhänger an seiner Silberkette vor ihrem Gesicht baumeln, hin und her, hin und her, bis sie sich beinahe selbst in Trance versetzt hätte. Erst eine zuschlagende Tür irgendwo im Haus brachte sie wieder zurück. Sie zwinkerte ein paarmal, stand auf und streckte sich. Auf dem Weg zum Wohnzimmer, wo das Telefon in der Ladestation stand, legte sie die Kette um und ließ den Anhänger unter ihrem T-Shirt verschwinden. Es erschien ihr mit einem Mal als völlig natürlich, dass sie ihn tragen sollte.
»Hallo? Hallo?« Anna riss das Telefon erschrocken vom Ohr weg. Die Frau am anderen Ende schien nicht auf die Technik zu vertrauen, sondern versuchte, die Distanz von Gießen nach Lüneburg durch Schreien zu überbrücken. Wahrscheinlich war sie schwerhörig.
»Hallo!«, brüllte Anna zurück. »Spreche ich mit der Mutter von Ingrid Doggenfuss?«
»Ja. Wieso? Was wollen Sie?«
»Ich bin Anna Siefken und würde gern mit Ingrid sprechen. Sie war mit meiner Mutter befreundet, zumindest glaube ich das. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie meine Mutter sogar selbst kennen. Ihr Name ist Bärbel. Bärbel Siefken, geborene Eckle.«
Anna wappnete sich innerlich gegen das Gebrüll von der anderen Seite, aber das Telefon blieb still. Also schrie sie den Mädchennamen ihrer Mutter noch einmal ins Telefon.
»Ist ja schon gut«, sagte die Frau unwirsch. »Warum schreien Sie so? Sind Sie schwerhörig?«
Anna geriet kurz aus der Fassung. Bevor sie etwas erwidern konnte, blaffte Frau Doggenfuss ein unfreundliches »Warten Sie!« ins Telefon. Dann hörte Anna gedämpftes Gemurmel. Frau Doggenfuss sprach mit einer anderen Person im Raum, vermutlich mit ihrem Mann, hatte aber die Hand über den Hörer gelegt, damit Anna nichts verstehen konnte.
»Sind Sie noch da?«
Anna zuckte zusammen. »Ja«, antwortete sie.
»Gut. Haben Sie etwas zu schreiben?«
»Moment.« Anna hastete in die Küche, wo Notizzettel und Stifte bereitlagen. »So, jetzt habe ich alles.«
»Dann hören Sie. Ihre Mutter war tatsächlich häufig zu Besuch bei meiner Tochter, als die beiden noch zur Schule gingen. Die Besuche wurden aber gegen Ende der Schulzeit seltener, bis sie schließlich ganz abbrachen. Seitdem habe ich Bärbel nicht mehr gesehen.«
»Oh.«
»Es tut mir leid«, sagte die Frau. Anna hatte das Gefühl, dass sich ihre anfängliche Ablehnung etwas gemildert hatte und sie auch meinte, was sie sagte. »Aber fragen Sie Ingrid doch selbst.«
»Nichts lieber als das. Wo finde ich sie?«
»In Indien. In Darjeeling. Sie besitzt dort gemeinsam mit ihrem Mann ein kleines Hotel. Schreiben Sie mit«, sagte Frau Doggenfuss und diktierte Anna eine Adresse und Telefonnummer in Indien sowie Ingrids Internetadresse. »Haben Sie alles?«
Anna nickte. »Gut«, sagte Frau Doggenfuss. Sie war nicht nur nicht schwerhörig, sondern konnte offensichtlich auch durchs Telefon sehen. »Vergessen Sie nicht die Zeitverschiebung, wenn Sie bei meiner Tochter anrufen. Und grüßen Sie sie. Auf Wiederhören.«
»Halt! Warten Sie!«
»Was ist denn noch?«
»Entschuldigen Sie meine Aufdringlichkeit, aber haben Sie eventuell auch meine Großeltern gekannt?«, fragte Anna hoffnungsvoll.
»Bärbels Eltern? Nein.« Anna war überzeugt, dass Frau Doggenfuss resolut den Kopf schüttelte.
»Dann haben Sie vielen Dank. Ich werde Ihre Tochter grüßen.«
Annas Enttäuschung schien unüberhörbar zu sein, denn nun war es Frau Doggenfuss, die Anna am Auflegen hinderte.
»Na, wissen Sie, ich habe in Wahrheit einmal mit ihnen gesprochen, bei einem Elternsprechtag. Das heißt, eigentlich redete nur er. Ihr Großvater war ziemlich wütend: Ingrid sei ein schlechter Umgang für seine kostbare Bärbel, und er würde den Kontakt unterbinden. Er könne überhaupt nicht verstehen, dass wir unserer Tochter diese schlampige Kleidung und die Negermusik und was weiß ich noch erlauben würden, und unterstellte uns, wir wären schlechte Eltern, denen es an der nötigen Härte fehlte. Ihr Großvater war kein angenehmer Mann, aber das wissen Sie ja selbst.«
Nein, dachte Anna. Nichts weiß ich. Bärbel war immer recht einsilbig gewesen, wenn Anna
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