Im Tal des Schneeleoparden
Leary wurde ausgebreitet, und jeder hatte sich reingehängt. Jeder, außer Achim. Lässig auf die Ellbogen gestützt, die nackten Füße zum Feuer gerichtet, waren seine belustigten Blicke über die sich ereifernden jungen Männer und Frauen geglitten, und in seinen Augen hatte eine Arroganz und Verachtung gelegen, die Ingrid eine Gänsehaut über die Arme jagte. Im nächsten Moment war sie sich allerdings nicht mehr sicher gewesen, ob sie sich nicht getäuscht hatte. Achim zwinkerte ihr zu, und die Arroganz war wie weggeblasen. Verwirrt hatte sie sich gefragt, ob seine Zurückhaltung bei der Diskussion daher rühren mochte, dass er einige Jahre älter war als alle anderen. Immerhin war es dieses verhalten Männliche, das Kantige seines Gesichts und seines Wesens, das sie seit seinem Auftauchen auf dem Foelkenorth sofort magisch angezogen hatte. Im Gegensatz zu den anderen Männern war er erwachsen, und seine Weigerung, etwas über sein früheres Leben zu erzählen, trug zu seiner geheimnisvollen Aura bei. Auf der anderen Seite schlug – zumindest bei Ingrid – seine praktische Ader positiv zu Buche. Da, wo die anderen nur schwafelten, packte er an. So war es hauptsächlich Achim zu verdanken, dass das leckende Dach des Haupthauses repariert worden war, um nur ein Beispiel zu nennen.
Nicht nur Ingrid hatte sich zu Achim hingezogen gefühlt, und er hatte keine Mühe gehabt, eines der Mädchen nach dem anderen zu vögeln – nicht dass es ihr etwas ausgemacht hätte. Dies war nun mal das Leben, das sie sich ausgesucht hatte, und an Bettpartnern gab es weiß Gott keinen Mangel. Als Babsi auftauchte, war Achim plötzlich wie ausgewechselt gewesen. Er bemühte sich nur noch um sie, aber Babsi ließ ihn abblitzen, genau wie alle anderen. Es hatte für Achim gesprochen, dass er es ihr nicht übelnahm und ihre Entscheidung akzeptierte. Es dauerte nicht lange, bis er wieder Gefallen an den anderen Mädchen fand.
Babsis Unschuld nahm durch das wilde, drogenberauschte Leben in der Kommune erstaunlicherweise keinen Schaden. Wie ein zarter Schmetterling flatterte sie bunt und verletzlich durch ihre Welt, und es bedurfte keiner Absprache, alles Grobe und Schmutzige von ihr fernzuhalten. Babsi wurde zum Maskottchen des Foelkenorths, naiv, rein und bezaubernd. Umso größere Verwunderung hatte es hervorgerufen, dass sie sich sogar noch vor Ingrid für die Indienreise interessierte. Ingrid hatte bis heute nicht verstanden, was Babsi dort zu finden hoffte. Andererseits wusste sie ja selbst nicht, aus welchem Material das Netz gewebt war, das auch sie eingefangen hatte.
»Nun hör auf zu grummeln«, unterbrach Achim ihre Grübeleien und legte seine Hand auf ihren Oberschenkel. »Ich verspreche hiermit hoch und heilig, dass ich alles Menschenmögliche unternehmen werde, um uns sicher nach Indien zu schaukeln.«
Ingrid schob seine Hand fort, aber ihr Ärger war verflogen. »Dann ist es ja gut«, murmelte sie. Sie konnte es kaum noch erwarten, dort anzukommen.
Griechenland, die Türkei, Teheran, Meshed und Herat flogen vorbei, Wochen und Wochen des Fahrens, immer wieder unterbrochen von Zwangsaufenthalten, weil der Bus repariert oder Visa beantragt werden mussten. Schon bald begannen sich Ingrids Erinnerungen zu verwirren, vieles konnte sie nicht mehr zuordnen. War es ein iranischer oder ein türkischer Tankwart gewesen, der ihr eine Rose geschenkt hatte? Wie hieß das Dorf am Ararat, in dem sie ein Ford-Arbeiter auf Heimaturlaub eingeladen und nicht eher Ruhe gegeben hatte, bis die extra für die Gäste geschlachtete Ziege bis auf die Knochen abgenagt war? Leuchteten die Scheinwerfer der Teheraner Autos wirklich in allen Farben des Regenbogens, oder war es nur eine Haschvision gewesen?
Zumindest wusste sie im Moment ungefähr, wo sie sich befand: auf der von Herat nach Kabul führenden Straße, die in einem beinahe tausend Kilometer langen Bogen durch die Schotterwüste des südlichen Afghanistans die unwegsamen Berge des Landesinneren umkurvte. Obwohl es nicht ihre Schicht war, hatte Ingrid freiwillig das Steuer übernommen, um einem hinten tobenden Streit über eine Banalität – wie meist ging es ums Saubermachen – zu entkommen. Dazu schepperte der Kassettenrekorder Dylans
Like a rolling stone.
Ingrid seufzte. Danach würden die Doors kommen:
People are strange, when you’re a stranger,
dann Janis Joplin, Amon Düül, Hendrix’ Version von
All along the Watchtower
und, natürlich,
Magical Mystery Tour
von den
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