Im Tal des Schneeleoparden
Waschgelegenheit im Haus, in der eigenen Wohnung sogar? Wer im Dorf hatte davon je gehört? Die Frau musste ungeheuer reich sein, dass sie sich so etwas leisten konnte.
Eine halbe Stunde später kuschelte sie sich unter eine warme Decke und ließ sich von dem aus dem Wohnzimmer dringenden Stimmengemurmel in den Schlaf singen. Das erste Mal seit ihrem Aufbruch aus Raato Danda fühlte sie sich wirklich sicher.
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34
L autes Scheppern auf dem Balkongang vor ihrem Zimmerfenster weckte Anna aus einem wirren Traum von Schneeleoparden, Hunden und Bussen. Auch wenn sie sich beim Aufwachen nicht mehr an etwas Konkretes erinnern konnte, war sie doch froh, dem Traum entkommen zu sein, angenehm war er nicht gewesen. Lieber hätte ich von Kim geträumt, dachte Anna und reckte sich. Das Nickerchen hatte trotzdem gutgetan, sie fühlte sich wach und hungrig. Draußen wurde es schon dämmrig, Zeit fürs Abendessen. Sie setzte sich auf – und kroch sofort wieder unter die Decke. Das Zimmer war eiskalt. Sie benötigte zwei weitere Anläufe, bis sie sich überwinden konnte, aufzustehen. Bibbernd tastete sie nach dem Lichtschalter neben der Tür.
Der Wecker zeigte halb sieben. Morgens. Sie hatte kein Nickerchen gehalten, sondern fünfzehn Stunden geschlafen. Umso besser, dachte Anna, dann kann der Tag nur schön werden. Gutgelaunt schlüpfte sie in ihre Badelatschen, zog sich die Fleecejacke über den Schlafanzug und schnappte sich die Zahnbürste und den letzten Rest Toilettenpapier. Die Zähne putzte sie sich draußen auf der Galerie – neben den Duschräumen gab es ein Waschbecken und einen Spiegel, den einzigen weit und breit. Während Anna die Bürste kreisen ließ, lehnte sie sich auf die Brüstung und genoss die knisternd kalte Luft. Die Welt lag noch im Schatten, aber die Sonne hatte den Himmel schon mit Pastelltönen gestrichen.
»Anna!«
Sie sah erstaunt nach unten. Zwischen den Tischen im Hof stand Ramesh, eine Pudelmütze auf dem Kopf und in einem viel zu großen Fleecepullover, und winkte ihr zu. Anna winkte zurück. Es freute sie ungemein, dass sich der gute Geist des Hauses ihren Namen gemerkt hatte. Langsam verstand sie, warum manche Reisende die luxuriösen Vier- oder Fünf-Sterne-Hotels verschmähten und lieber die Unbequemlichkeiten eines einfachen Mini-Hotels in Kauf nahmen. Es gab vieles, was mit Geld nicht zu bezahlen war.
»Kommst du zum Frühstück?«, fragte Ramesh auf Englisch und versenkte seine Hände wieder in den Taschen.
Weil sie den Mund noch voller Schaum hatte, nickte sie ihm nur zu. Zehn Minuten später saß sie dick eingepackt im Hof, dessen Wände mit Blumenampeln und Bildern von Hindugöttern dekoriert waren. Ein Junge von vielleicht dreizehn Jahren brachte ihr dampfenden Milchtee und eine Schüssel Müsli mit Joghurt. Aus der Schüssel strahlte ihr ein aus Mandarinenscheiben und Granatapfelkernen gestaltetes Smiley entgegen. Anna sah es als gutes Omen, dass selbst das Müsli ihr einen guten Morgen wünschte. Sie ließ sich Zeit, las in ihrem von Ingrid geliehenen deutschsprachigen Reiseführer, studierte die Karte und entwarf einen Plan für den Tag. Erst als sie sich erhob, trudelten die nächsten Gäste in dem Hof ein, ein Ehepaar, das sich in einer Sprache unterhielt, die Anna überhaupt nicht einordnen konnte. Finnisch? Norwegisch? Sie grüßte die beiden und verließ die Annapurna Lodge, um einen ersten Spaziergang zu machen.
Eine Stunde später stand Anna vor einem winzigen Kiosk schräg gegenüber der Annapurna Lodge. Sie hatte sich im Viertel umgesehen und dabei beinahe verlaufen, bis ein dringendes Bedürfnis sie zur Umkehr zwang. Bevor sie sich ins Hotel zurückziehen konnte, fehlte aber noch etwas Essenzielles.
»Do you sell toilet paper?«
»Sure.« Der hochgewachsene Nepalese hinter dem Verkaufstresen bückte sich und förderte tatsächlich eine einzelne Rolle zutage. »Do you need anything else?«
»Yes.« Anna inspizierte hilflos seine Auslage. Feuerzeuge, Schokolade, Bonbons, Zigaretten, Seife, bestickte Portemonnaies, selbstklebende Bindis, Haarspangen, Handtücher, nichts, was es nicht gab. Außer Zahnpasta. Und dafür fiel ihr das englische Wort nicht ein. »Zahnpasta«, murmelte sie, »verdammt noch mal, das kann doch nicht so schwer sein.«
»Toothpaste«, soufflierte der junge Mann lachend. »Wenn Sie möchten, können wir uns auch auf Deutsch unterhalten.«
Vor Verblüffung blieb Anna stumm.
»Welche möchten Sie?« Binnen Sekunden zauberte er aus
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