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Im Tal des Vajont

Im Tal des Vajont

Titel: Im Tal des Vajont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mauro Corona
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meiner Nase durch die Luft schwirren, mit einer Wut und Kraft, dass ich nur staunte. Wie die Sense das Gras durchschnitt der Stab mit kurzem Pfeifen die Luft, und ich erschrak nicht wenig, als er direkt an meiner Nase vorbeizischte. Aber ich wich keinen Millimeter von meinem Platz, andernfalls würde dieser Verrückte merken, dass ich Angst hatte, und wirklich zuschlagen.
    Ich versuchte, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben und fragte Raggio, was er mit seinem Anteil an der Molkerei machen wolle. Er wolle nichts mehr davon wissen, antwortete er, weder von Milch noch von Molkerei, noch wolle er mich sehen, gar nichts mehr. Er müsse mich umbringen und würde daher auch nicht mehr arbeiten kommen, aber wenn ich ihm dreißig Ziegen gäbe, hätte ich ihm damit seinen Anteil an der Molkerei ausgezahlt, denn er wolle wieder als Hirte arbeiten. Dann begann er erneut, in die Luft zur alten Hexe Melissa zu reden, nannte sie Schlampe, und da war es Zeit zu gehen.
    Tags darauf brachte ich ihm zusammen mit zwei Zeugen die dreißig schönsten Ziegen, die ich besaß, und sperrte sie in seinen Stall, weil er gerade böse Teufel und von Neuem Blut aus seinem Brunnen herausschießen sah.
    Von jenem Tag an war Raggio wieder Hirte und hütete seine Ziegen zusammen mit denen, die ich ihm gegeben hatte. Überall zog er mit ihnen herum, vom Monte Borgà bis zum Certén, von Lodina bis zu den Bus di Bacòn, vor allem aber trieb er sie auf den Monte Porgait zum Weiden. Dabei zeigte er, auch wenn er wegen der Tollkirsche vollkommen unberechenbar war, einen heiligen Respekt vor seinen Tieren. Dagegen war er zu der Zeit, als er noch auf die Jagd ging, grausam wie ein Marder gewesen, unbarmherzig und mitleidlos gegenüber den wilden Tieren, denen er begegnete. Ich hatte nicht die geringste Angst, dass er mich erschießen würde, denn er hatte die fixe Idee, mich mit dem Königsstab zu erschlagen, daher war ich gefeit gegen Gewehrschüsse, und das war viel wert.
    Vollkommen lustlos nahm ich meine Arbeit in der Molkerei wieder auf, neben der Arbeit mit meinen Kühen und Ziegen. Es war nichts mehr wie früher. In der Molkerei empfand ich alles als schwere Last, so als trüge ich den Amboss meines Bruders auf dem Kopf. Mir kam vor, alles Elend des Lebens sei nun in unsere Molkerei eingezogen.
    Ohne meinen Kumpan Raggio und ohne sie, die mir beide früher so viel Kraft gaben, hatte ich jetzt allen Lebensmut verloren. Und nach der Geschichte mit dem Kind begannen nun auch die Leute im Dorf, mich ein wenig schief anzusehen. Kaum dass sie mir Guten Tag und Guten Abend sagten, wenn sie Milch abliefern kamen oder Käse kauften. Früher dagegen, als noch alles gut war, blieben sie auf ein Schwätzchen bei einem Glas Wein, denn obgleich es in unserer Molkerei um Milchverarbeitung ging, so fehlte doch nie die Korbflasche Wein.
    Damit mir jemand bei der Arbeit zur Hand gehen konnte, nahm ich einen Burschen aus dem Soprafuoco-Viertel, Corona Vitorin Scàia, zu mir in die Molkerei. Ich wollte ihn etwas in das Handwerk einweisen, denn insgeheim dachte auch ich schon daran, dem Beispiel Raggios zu folgen, alles aufzugeben und mit meinen Ziegen wieder auf die Bergweiden zu ziehen. Dort oben wenigstens gab es für die schlechten Gedanken mehr Raum, sich auf dieser oder jener Weide zu zerstreuen.
    Ich schleppte mich noch bis Juni so dahin, aber fortan war ich des Lebens überdrüssig und todmüde. Mehr noch als müde, war ich von allem angeödet, über alles verbittert und wollte diesen Ort nicht mehr sehen. Jedes Mal, wenn ich in die Molkerei ging, schmerzte mir das Herz. Denn dann hatte ich Raggio vor Augen, wie er mir bei der Arbeit half, und sie, wie sie ihren Käse, jenen vermaledeiten großen Käselaib, sauber bürstete, und musste zugleich daran denken, dass sie unser Kind da hineingesteckt hatte.
    Eines Tages dann geschah etwas, das meinen Entschluss beschleunigte, die Molkerei an jemand anderen zu übergeben und wieder meine Hirtenarbeit aufzunehmen. Gemeinsam mit dem Burschen Vitorin Scàia war ich gerade mit der Herstellung des Käsebruchs beschäftigt. Es gab wenig Milch, weil die meisten Kühe zu dieser Zeit auf der Alm waren. Da tauchte unversehens Raggio mit einem Bündel im Arm auf; mit weit hervorquellenden Augen, wie immer, wenn ihn der Wahnsinn packte. Ich ahnte Schlimmes. Er lehnte seinen Stab an die Wand und bat mich, ihn einen großen Käselaib für den Priester machen zu lassen. Ich erwiderte, dass die Milch für einen großen Laib

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