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Im Tal des Vajont

Im Tal des Vajont

Titel: Im Tal des Vajont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mauro Corona
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Minestra oder sonst etwas essen. Dann blies sie ein wenig auf den Löffel, um die Minestra, die keine war, abzukühlen und darauf jemandem in den Mund zu schieben, der auf ihren Knien saß. Aber außer Luft war da niemand auf ihren Knien.
    Die Nonnenschwester sagte mir, was ich schon wusste, dass nämlich ein Kind auf ihren Knien saß. Ich wusste, es war das Kind, das sie mit mir gemacht und nach dem Niederkommen in den Käselaib gesteckt hatte, aber ich hielt meinen Mund.
    Ich trat näher an sie heran und rief sie an.
    Sie hob den Kopf und schaute mich an, ohne mich zu erkennen, dann fütterte sie ihr Kind weiter, das nicht existierte. Ich empfand einen unerträglichen Schmerz bei dem Anblick, wie sie da einem Nichts zu essen gab. Da beschloss ich, sofort wieder wegzugehen und nie mehr an diesen Ort des Todes zurückzukehren, wo es keine Vernunft mehr gab. Aber bevor ich aufbrach, geschah noch etwas, dass mir die Tränen kamen, auch wenn ich innerlich schon seit langer Zeit weinte.
    Sie blickte mich noch einmal starr an, dann nahm sie das Kind, das nicht da war, und streckte es mir lächelnd entgegen, wie um es mir zu zeigen, und ich sollte es doch auch ein wenig halten, während sie etwas anderes machte. Da nahm ich es dann zum Schein hoch, als würde es tatsächlich existieren. Sie tat nichts weiter, als mir zuzusehen, und mir schien, sie lächelte auch ein wenig. Dann stand sie auf und stellte sich nah zu mir, und während ich mit der Hand so tat, als streichelte ich das Kleine, fing sie an, mit diesem Kind aus Luft auf meinem Arm zu spielen. Sie gab ihm mit der Fingerspitze einen Stups auf die Nase, dann auch mir und lachte leicht dabei. Da musste ich weinen. Als sie meine Tränen sah, nahm sie ihr Kind zurück, setzte sich weiter weg und gab ihm wieder zu essen. In diesem Augenblick hörte die Welt für mich zu existieren auf, und ich schwor mir, sie nie wieder zu besuchen. Wozu sollte es gut sein, sie in diesem Zustand zu sehen, wo sie gar nicht mehr zu existieren schien, nur noch Luft, wie ihr Kind.
    Die Schwester fragte mich, ob ich ihr Mann sei, worauf ich antwortete, ich sei nur ein Verwandter. Dann erzählte sie mir noch, dass sie Tag und Nacht das Kind pflegen und nie schlafen würde, und keinem wäre es bisher gelungen, ein Wort aus ihr herauszubekommen. Aber in der Nacht weinte sie immer, wenn sie ihrem Kleinen zum Einschlafen nicht gerade Wiegenlieder vorwinselte.
    Zum Abschied legte ich noch meine Hand auf ihren Kopf, aber als hätte ich sie gar nicht berührt, fütterte sie nur weiter ihr Kind.
    Ich kehrte nach Erto zurück, meinen Kopf in den Händen vergraben.
    Während der ganzen Reise dachte ich an die Frau mit ihrem Kind, und dabei kam mir wieder die arme Maddalena Mora in den Sinn, über die man sich erzählte, dass sie mit einer Lungenentzündung im Sterben lag, wobei sie sterben musste, weil eine Alte ihr das Kind mit einer Stricknadel aus dem Bauch geholt hatte. Sicher war auch jenes Kind meins gewesen, aber sie, Maddalena Mora, hat es nie zugegeben, weil sie niemandem etwas von ihren Angelegenheiten erzählte. So hatte ich jetzt zwei Kinder, die nicht am Leben gelassen wurden.
    Ich öffnete die Tür zu meinem Haus und versuchte, wie es irgend ging, mein früheres Leben wiederaufzunehmen, aber nach all den schlimmen Dingen, die passiert waren, fiel es mir nicht leicht, einfach wie früher weiterzumachen. Und dann war da Raggio, der mir geschworen hatte, mich umzubringen. Und tatsächlich gab es wenig später den ersten Zusammenstoß mit ihm.
    Eines Morgens in der Molkerei, als ich gerade dabei war, den Käse aus dem Kessel zu ziehen, hörte ich Schritte hereinkommen. Da ich dachte, jemand brächte Milch oder holte Käse oder Butterschmalz, drehte ich mich nicht einmal um und wartete auf den Gruß, an dem ich den Eintretenden erkennen würde. Dagegen spürte ich plötzlich, wie mich eine Hand am Nacken packte und meinen Kopf unvermittelt in den Kessel voller Molke und Käsebruch presste. Weil ich so überrumpelt wurde, steckte ich unversehens bis zur halben Brusthöhe im Kessel. Ich hatte das Gefühl zu ersticken und spürte, wie jemand mich mit beiden Händen heruntergedrückt hielt.
    Zum Glück konnte ich mich noch mit einer Hand am Kesselrand festhalten und mich so weit hochstemmen, bis ich ihn auch mit der anderen zu fassen bekam. Atemlos nahm ich die letzten Kräfte zusammen und zog mich mit einem Ruck aus dem Kessel heraus, mit jemandem am Rücken, der mir immer noch den Hals

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