Im Tal des Vajont
scherzhaft, wenn der so weitermache, würde er nach einem Jahr ganz ohne Ziegen dastehen.
Dazu ist noch zu sagen, dass Raggio jedenfalls keinem Menschen etwas zuleide tat, und wenn man das eine Mal außer Acht lässt, wo er dem jungen Gigin da Tòrnol einen Stockhieb verabreichte, weil dieser sich nicht verbeugen wollte, hatte Raggio noch niemandem etwas angetan. Auch deswegen brachte man ihn nicht ins Irrenhaus, er erregte eher Mitleid und fügte ja keinem etwas Böses zu; das hatte er nur mit mir vor.
Eines Tages brach er mir das Herz, als ich ihm in den Buse di Lodina begegnete. Nie hätte ich gedacht, ihn ausgerechnet dort oben anzutreffen, weil er für gewöhnlich nur selten zu den Buse ging, und als ich ihn dann sah, bereitete ich mich schon auf eine Konfrontation vor. Ich war gerade beim Abstieg, um mir etwas zum Essen zu holen, als er mir mit seiner Herde den Weg herauf entgegenkam. Ich hatte meine Ziegen am Hang des Centenere zurückgelassen, weil auf den Steilwiesen dort viel gutes Gras wächst.
Kaum hatte Raggio mich gesehen, stimmte er gleich seine übliche Leier an, er würde mich mit seinem Stock noch totschlagen. So hatte ich, verteidigungsbereit, schon die Hand am Messer hinter meinem Rücken, als wir aneinander vorbeigingen. Aber der arme Freund, als er sah, wie eilig ich an ihm vorüberging, setzte sich neben einen Stein auf den Boden, legte den Kopf auf einen Arm und fing wie ein Kind zu weinen an. Ich merkte, dass er weinte, denn ich hörte ihn jammern wie ein Zicklein, das seine Mama verloren hat.
Also blieb ich stehen, schaute zu ihm hin und wusste nicht, was ich tun sollte, zurück hinauf, um mit ihm zu reden oder geradewegs weitergehen. Ich beschloss, nach ihm zu sehen, doch als ich ihm die Hand auf die Schulter legte, schnellte er wie eine Viper hoch und versuchte mir einen Stockhieb zu versetzen, dem ich gerade noch um Haaresbreite ausweichen konnte. Einen Millimeter vor meinem Gesicht sauste das Holz vorbei. Dann sagte er, ich solle ihm nie wieder nahe kommen, weder lebend noch tot. Ich wolle nur mit ihm reden, erklärte ich, um die ganze Geschichte einmal klarzustellen, aber er wollte keine Gründe hören und erwiderte, dass ich ja schon früher mit ihm hätte reden können, als noch Zeit dazu war. Dann kniete er sich auf die Erde und begann von Neuem zu weinen.
Ich ließ ihn dort weinend sitzen und stieg hinab, um etwas zu essen zu besorgen, aber mit einem Kloß im Hals. Nach diesem Treffen kam mir allerdings der Verdacht, dass Raggio mir absichtlich bis auf die Hochweiden folgte, um es mir heimzuzahlen.
Um ihm nicht gleich wieder zu begegnen, nahm ich am folgenden Morgen den Weg durchs Zemolatal, trieb dort meine Tiere zusammen, ging über den Durannopass und ließ sie auf den Hängen des Bozzìa weiden.
Allmählich wurde es mir zu viel, wie die Dinge standen, und ich überlegte, ob ich nicht für ein paar Jahre fortgehen sollte. Doch allein der Gedanke, mein Tal zu verlassen, ließ meine Knie weich werden, wie unter einem schweren Gewicht auf den Schultern. Es war, als verriete ich damit meine Vorfahren, meinen Bruder, meinen Vater, meine Mutter und alle jene, die mir gut gewesen waren, einschließlich der trunksüchtigen Tante und jener anderen aus Mailand wie auch der ersten Frau, die mir beibrachte, wie man es macht; kurz, es war wie ein Verrat an der Erinnerung an sie alle. Aber nicht nur das. Dies war der Ort, wo ich mich wohlfühlte, auch wenn er wenig oder nichts hergab, hier gefiel es mir. Ich liebte meine Berge, meine Wälder, die Wiesen und den Vajont mit seinen Mühlen und Sägewerken. An jeder Ecke, um die ich in meinem Dorf bog, sah ich mich als Kind, und da verstand ich, dass ich nicht den Ort verlassen konnte, wo mich alles an mein Kindsein erinnerte.
Wenn ich an diese Dinge dachte, hatte ich ein Gefühl wie ein Stein im Hals, der mir den Atem raubte. Also entschied ich, nie von Erto fortzugehen und mich Raggio zu stellen, geschehe, was geschehen sollte, ich jedenfalls blieb hier. Besser tot daheim als lebendig weit weg von den Orten, die mein Leben waren.
Eines Tages tauchte Raggio unversehens in Pilins Osteria auf, mit seinem Stab in der Hand und der Krone auf dem Kopf, setzte sich auf eine Bank und schaute sich um. Ich war schon eine Weile da, um Einkäufe zu machen, und als ich ihn sah, bewegte ich mich zur Tür, um fortzugehen. Aber er hielt mich zurück und fragte, ob ich wüsste, wo seine Frau geblieben sei. Ich betrachtete seine Augen und sah, dass sie
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