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Im Tal des Vajont

Im Tal des Vajont

Titel: Im Tal des Vajont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mauro Corona
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konnte ich jede mögliche Bitte äußern, und diese Leute taten alles, um mich zufriedenzustellen.

Hin und wieder nahm ich meinen Karren, stellte mich zwischen die Zugstangen und zog so durch die Ortschaften des Friaul. Vor allem anderen trieb mich die Neugier, etwas Neues und Orte zu sehen, von denen ich nicht einmal den Namen gehört hatte; es ging mir weniger darum, meine Sachen zu verkaufen, als vielmehr, den Kopf frei zu bekommen. Wohin ich auch kam, immer wurde ich gut behandelt von den Leuten, und nicht selten passierte es, dass jemand in einer Familie mich fragte, ob ich nicht vielleicht diese Frau aus Erto oder jene andere kannte, die mit dem Korb auf dem Rücken vorbeigekommen war, um hölzerne Löffel und Nudelhölzer zu verkaufen.
    Denn auch jene ertanischen Frauen waren von diesen großherzigen Familien zum Schlafen ins Haus eingeladen worden.
    Inzwischen machte ich fast jede Woche einmal bei meinen Bauernfreunden in San Michele al Tagliamento Station und stellte meinen Karren im Hof ihres großen Gutshauses ab. Wenn es dann etwas zu tun gab, und irgendetwas gab es immer, so half ich beim Melken, beim Versorgen der Tiere oder auch beim Heraustragen des Mistes aus dem Stall. Sie bemerkten gleich, dass ich mit Tieren umgehen konnte. So sagte ich ihnen auch, dass ich in meinem Dorf als Käser gearbeitet hatte.
    An einem Abend waren wir im Stall versammelt und sprachen darüber, wie man bei mir in den Bergen Käse macht und wie sie ihn hier machen. Dabei erfuhr ich einiges, was ich noch nicht wusste, aber auch sie lernten von mir Dinge, die sie nicht kannten.
    An dem Punkt, wo ich angelangt war, interessierte es mich eigentlich gar nicht, etwas dazuzulernen, ich hörte aus bloßer Neugier zu und weil ich beim Zuhören nicht an die eisenbeschlagenen Schuhe denken musste.
    Bevor ich mich abends zum Schlafen auf das Stroh legte, brachte mir die Frau des Padrone immer eine Karaffe Wein, den ich dann in einem Zug austrank, so konnte ich ein paar Stunden schlafen.
    Sie war eine schöne Frau, nicht sehr groß, mit dunklen Haaren, schönen Augen und zwei Jahre jünger als ihr Mann, der vierzig war. So sagte sie mir jedenfalls. Ich würde am 13. September einundvierzig Jahre alt werden.
    Eines Abends, nachdem sie mir den Liter Wein gebracht hatte, blieb sie noch auf ein paar Worte bei mir und fragte mich, ob mir etwas fehle, weil ich immer so still sei. Ich antwortete, es seien alte Familiengeschichten ohne weitere Bedeutung.
    Dabei waren sie nicht alt und hatten sogar große Bedeutung, denn mit jedem Aufwachen waren auch immer wieder neu und lebhaft die Gewissensbisse da, und die wurden nie alt, immer, wenn ich aufwachte, waren sie wie neu.
    Mitte Mai schnitten die Brüder des Padrone längs eines Kanals Maulbeerbäume und brachten sie in den Hof des Gutshauses. Ich sagte ihnen, dass der Mai nicht der richtige Monat sei, um Bäume zu fällen, weil gerade dann frischer Lebenssaft durch sie ströme. Aber der Padrone gab zurück, dass er gezwungen sei, sie auszureißen, um den Boden urbar machen und in ein Feld umwandeln zu können.
    Da ich in dieser Zeit nicht viel im unteren Friaul unterwegs war, half ich ihnen beim Sägen und Spalten der Maulbeerbäume zu Brennholz, welches ich dann an der sonnenseitigen Hausmauer aufschichtete. Eine ganze Woche lang arbeitete ich ununterbrochen von morgens bis in die Nacht hinein, denn während ich sägte und spaltete, konnte ich vergessen, was ich getan hatte.
    Mittags und abends aß ich zusammen mit ihnen, blieb aber nur kurz bei Tisch, weil ich lieber im Stall bei den Tieren war, allein mit meinen Gedanken.
    Während des Essens bemerkte ich, dass die Hausherrin hin und wieder zu mir herüberschaute, also beugte ich mein Gesicht tiefer über den Teller, um ihrem Blick auszuweichen, denn sie sah mich auf eine Weise an, dass ich schon verstanden hatte.
    Eines Tages nahm ich meinen Zugwagen, verabschiedete mich von meinen Bauernfreunden und brach in Richtung Udine auf mit dem Plan, meinen Bruder Bastianin im Gefängnis zu besuchen. Acht Tage lang zog ich von Ort zu Ort, machte mal hier, mal dort halt, ohne wirklichen Mut, bis nach Udine zu meinem Bruder zu kommen. Nicht dass ich ihn nicht gern umarmt hätte, im Gegenteil. Ich mochte ihn gern, meinen Bruder, er war ja schließlich alles, was mir noch blieb von unserer unseligen, von Unglück zerstörten Familie. Wenn ich ihn traf, würde ich ihm ganz sicher die ganze Wahrheit über das Geschehene erzählen, denn meinem Bruder

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