Im Tal des wilden Eukalyptus
und sah sich um. Wie lange hatte sie keinen Blick mehr für ihre Umgebung gehabt? Etliche Meter weiter vorne, in der Nähe des Lazaretteingangs, schnaubte ihre Stute, die sie dort angebunden hatte, und schlug mit dem Schweif die allgegenwärtigen Mücken fort. Vom Fluss her, der hinter dem Lazarett rauschte, wehte für einen Moment eine erfrischend kühle Brise heran. Der Boden war knochentrocken; nichts erinnerte mehr an die Ãberschwemmung vom vergangenen Jahr, als der Fluss weit über die Ufer getreten war und auch das Lazarett überflutet hatte.
Moira hob ihr schweiÃfeuchtes Haar aus dem Nacken. Jetzt galt es, ein weiteres Problem anzupacken: Duncan wollte dringend seinen Sohn sehen. Schon zweimal hatte er heute Morgen nach ihm gefragt. Moira hatte sich beide Male herausreden können, worauf er stets wieder erschöpft eingeschlafen war. Aber lange würde er sich nicht mehr hinhalten lassen. Irgendwann würde sie es ihm sagen müssen. Doch solange er noch so schwach war, beschloss sie, würde sie ihm nicht verraten, dass ihr kleiner Junge nicht mehr bei ihnen war.
Sie zuckte zusammen, als ein Mann zu ihr auf die Veranda trat. Auch wenn sie ihn diesmal gleich erkannte, würde es sicher noch eine ganze Weile dauern, bis sie sich an sein verändertes Aussehen gewöhnt hätte. »Joseph! Ich dachte, du wärst mit Ningali längst wieder bei den Eora !«
»Ningali ist zu unseren Leuten zurückgekehrt â wenigstens hoffe ich das. Aber ich werde doch meinen Jungen nicht alleine lassen.« Er kam noch einen Schritt näher. »Ist es wahr? Der Doktor sagt, er werde wieder gesund.«
Moira nickte glücklich. »Auch wenn das noch eine ganze Weile dauern wird. Sobald er fieberfrei ist, will McIntyre ihn wieder in den Krankensaal verlegen lassen.«
Sie deutete auf ein Fenster des Lazaretts, aus dem ein saurer Geruch drang; der Hygiene wegen wurde hier jeden Tag mit Essig aufgewischt.
»Sehr gut, sehr gut.« Joseph stellte sich an einen hölzernen Pfeiler und begann, seinen Rücken daran zu reiben, als würde ihn etwas jucken. Ein Ausdruck puren Behagens erschien auf seinem frisch rasierten Gesicht. »Darf ich dich etwas fragen?«
»Gerne.«
»Nun ja.« Joseph löste sich vom Pfeiler. »Der Doktor ist schon recht alt im Vergleich zu dir. Als ihr geheiratet habt â war es seine erste Ehe?«
Moira sah ihn überrascht an. Mit einer solch persönlichen Frage, die noch dazu einen Teil ihres Lebens betraf, an den sie lieber nicht zurückdachte, hatte sie nicht gerechnet.
»Nein«, sagte sie dennoch wahrheitsgemäÃ. »Er war verwitwet. Seine erste Frau ist gestorben. Wieso willst du das wissen?«
Joseph machte eine wegwerfende Geste, und für einen kurzen Moment fühlte Moira sich an Duncan erinnert. »Reines Interesse. In all den Jahren im Busch mangelte es mir etwas an Klatsch und Tratsch, das muss ich nun nachholen.« Dennoch wurde Moira das Gefühl nicht los, dass ihn etwas ganz anderes umtrieb.
»Du hast mir nie erzählt«, fragte er auch schon weiter, »wie du Duncan kennengelernt hast. Wurde er dir und dem Doktor als Sträfling zugeteilt?«
»Nein, nicht direkt. Anfangs war nur Ann bei uns«, erwiderte sie. »Duncan hat mich vor dem Ãberfall eines Aufsehers bewahrt, drauÃen im Busch. Danach hat der â¦Â«, sie konnte sich gerade noch zurückhalten, nicht »der alte Bock« zu sagen, »hat der Doktor Duncan als zweiten Sträfling angefordert. Als Kutscher, für kleinere Reparaturen im Haus, und manchmal hat er ihn auch bei seinen Behandlungen helfen lassen.«
Sie lächelte, als sie an diese Zeit voller Aufregung und Heimlichkeiten zurückdachte. An die Nacht, in der sie sich zum ersten Mal hinüber zu Duncan ins Kutschenhaus Âgeschlichen hatte. An den Rausch der Verliebtheit. Es tat gut, endlich wieder lächeln zu können.
Joseph interessierte offenbar etwas anderes. »Es war also der Doktor, der Duncan angefordert hat.«
Sie nickte. »Das sind seltsame Fragen, Joseph. Hast du Sehnsucht nach deiner eigenen Sträflingszeit?«
Er lachte leise. »Nein, das sicher nicht.« Erneut lehnte er sich mit dem Rücken an den Pfeiler. »Dieses Hemd juckt! Ich bin es nicht mehr â¦Â«
»Still!«, zischte Moira, und Joseph verharrte mitten in der Bewegung. »Und dreh dich nicht um!«
»Was ist
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