Im Tal des Windes: Roman (German Edition)
Jahre war ein riesiger Schuldenberg angewachsen, dessen Zinsen bei den Banken kaum noch zu tilgen waren.
» Unsere gesamte Hoffnung ruht jetzt auf dir, Kind. Und es ist doch auch nicht zu deinem Nachteil, wenn du einen wohlhabenden Mann heiratest. «
» Nein, außer dass jeder über mich herzieht und es mir genauso geht wie Charlotte. «
» Gott bewahre Kind, nein. Keine Angst, es gibt genug junge Männer. Dein Vater und ich werden schon den Richtigen finden. «
Johanna schüttelte den Kopf. Sie wusste, wer der richtige Mann für sie war. Aber Liam konnte die Chesters nicht aus ihrer finanziellen Misere retten. Dennoch musste es irgendeine Lösung geben. Vielleicht konnte sie diese gemeinsam mit Liam finden. Sie brauchte den Luxus nicht, mit dem sich ihre Mutter so gerne umgab, und auch das Gerede der Leute würde sie nicht mehr kümmern, wenn sie nur mit ihm zusammen sein konnte. Es konnte doch nicht alles vorbei sein, bevor sie überhaupt eine Chance bekommen hatten, einander kennenzulernen.
Johanna hatte in den vergangenen beiden Tagen sehnsüchtig auf eine Nachricht von Liam gewartet. War am Tage mit Freundinnen im Park gewesen, weil ihr Ausritte verboten worden waren, und hatte Ausschau nach ihm gehalten. Elisabeth Chester musterte ihre Tochter eine Weile. Da Johanna weiterhin schwieg, erhob sie sich und ging zu ihrem Frisiertisch. Sie kam mit mehreren samtenen Kästchen zurück, in denen der kostbare Familienschmuck verwahrt wurde.
» Was davon gefällt dir am besten? « , fragte Elisabeth Chester mit bemüht freundlicher Miene.
Johanna verstand nicht, was das alles sollte. Wollte sie ihr zum Trost etwas schenken? Kein Schmuckstück war teuer genug, um ihr Glück zu ersetzen. Sie atmete tief durch und tippte auf ein Collier mit Saphiren und kleinen Diamanten. Sie liebte es, seitdem sie es zum ersten Mal gesehen hatte. Es war ein prachtvolles Stück, das schon seit drei Generationen in der Familie war.
Ihre Mutter nickte und zwang sich zu einem Lächeln.
» Eine gute Wahl, mein Kind. Das soll dein Erbe sein. «
Johanna verstand nicht.
» Und die anderen? «
» Die verkaufe ich. Dein Vater hat versucht, unseren Landsitz zu veräußern, und einen Teil der Ländereien, doch es gibt keine Interessenten. Die Zeiten sind schlecht. Trotzdem soll sich niemand über uns das Maul zerreißen wie über deine Freundin Charlotte. Du wirst eine prachtvolle Hochzeit haben, es soll schließlich der schönste Tag in deinem Leben sein. «
Erst in diesem Moment wurde Johanna klar, wie schlimm es um die Chesters stand. Ihre Mutter hätte sich sonst nie von ihren Schätzen getrennt. Ein Gefühl von Endgültigkeit kroch ihr eisig den Rücken hinauf. Es lag in ihrer Hand, die Familie zu retten.
Was zählten da noch ihre Träume? Sie waren ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnten.
Gerührt stand Johanna auf, um ihre Mutter zu umarmen, doch die drehte sich hastig weg. Elisabeth Chester schluchzte leise, trug die Schmuckkästchen zurück und blieb mit dem Rücken zu Johanna stehen. Im Spiegel sah sie dennoch, wie sich ihre Mutter Tränen aus den Augenwinkeln tupfte.
Genau in diesem Moment klopfte es an der Tür. Es war die Haushälterin Dora.
» Es ist Besuch für Sie gekommen, Miss Johanna. «
» Ich erwarte niemanden « , entgegnete sie überrascht.
» Miss Warington. Soll ich sie wegschicken? «
Der Name sagte Johanna nichts. Sie wies an, ihren Gast hereinzubitten und Tee anzubieten.
Sobald sie wieder allein waren, trat sie zu ihrer Mutter. Es schmerzte Johanna zu wissen, wie sehr die Sorge an ihr nagte. Entschlossen ergriff sie ihre Hände. Lady Chester hob den Kopf.
» Es ist nichts, Kind. «
» Ihr könnt euch auf mich verlassen. Ich verspreche es « , sagte sie feierlich.
Lady Chester lächelte und strich ihr liebevoll über die Wange.
» Wähle dir einen anständigen Mann aus, mein Kind. Du musst nicht gleich morgen heiraten. «
» Aber bald. «
Sie nickte.
» Ja, bald. Sonntag geben sie Othello im Her Majesty’s Theatre. Man sagt, der engste Kreis um Königin Victoria soll anwesend sein. Dort gehen wir hin, und du kannst dich umsehen. Und nun kümmere dich um deinen Gast. «
Kurz darauf betrat Johanna die sonnige Terrasse. Dass die Sonne überhaupt schien, kam ihr vor wie blanker Hohn. Regen oder noch besser ein Schneesturm hätten zu ihrer Stimmung gepasst.
Eine hübsche junge Frau saß im Schatten eines Baldachins und erhob sich, sobald sie Johanna erblickte. Sie hatte blonde Locken und trug
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