Im Tal des Windes: Roman (German Edition)
angekommen, saß Liam auf.
Jetzt war es nur noch ein kurzer Ritt. In der Ferne mischte sich schon der Rauch von Herdfeuern mit dem feuchten Nebel. Der weiße hölzerne Kirchturm von New Plymouth ragte zwischen den abgeflachten Baumkronen der Küstenpinien hervor. Dort, wo die sanft gewellte Landschaft in eine weite grau verhangene Ebene überging, musste das Meer sein. Salzgeschmack lag in der Luft und der Geruch von Tang.
Cassio schritt fleißiger aus und reckte den Kopf in den auffrischenden Wind. Neuseeland war dem Tier zur neuen Heimat geworden, und jetzt witterte es den Stall und vertraute Weiden.
Eine Stunde später war es so weit, die ersten Häuser kamen in Sicht, und der Weg gabelte sich. Liam nahm Abschied von den Kameraden, die in die Kaserne zurückkehrten. Er würde die Nacht wie so oft im Anwesen der Familie Bellinghouse verbringen. Immerhin war Weihnachten.
Liam wartete, bis die Soldaten hinter einem kleinen Wäldchen verschwanden, dann überließ er dem Pferd seinen Willen. Die Nähe zum Stall mobilisierte die letzten Kraftreserven. Cassio fiel sofort in schnellen Trab. Laut dröhnten die Hufe über eine neue Holzbrücke, die den kleinen Bach an der Grenze der Ländereien überspannte. Von da an gab es kein Halten mehr, und Liam ließ endgültig die Zügel los.
Cassio trug ihn im Galopp durchs Tor und eine lange Südbuchenallee zum Anwesen hinauf. Sein lautes Wiehern wurde auf den umliegenden Weiden und aus den Ställen erwidert.
Auf dem weiten Vorplatz parierte Liam durch und ritt gemächlicher am Haupthaus vorbei zu den Ställen im Hof. Trotz des Lärms, den Cassio veranstaltet hatte, schien niemand sein Kommen bemerkt zu haben. Erleichterung machte sich in ihm breit.
Die Gardinen vor Marinas Fenster waren zugezogen, der Schatten ihrer zarten Gestalt nirgends zu entdecken. Womöglich waren sie in den Ort gefahren, um den Gottesdienst zu besuchen.
Während der Wallach bereits ungeduldig einzelne Strohhalme vom Boden auflas, sattelte Liam ab, rieb das Tier kurz trocken und nahm seine wenige persönliche Habe aus den durchweichten Satteltaschen. Er führte Cassio in den Stall, brachte ihm Heu, Äpfel und eine Kelle Hafer und blieb in der Box stehen.
Den Rücken gegen die Holzwand gelehnt, schloss er die Augen und genoss für einen Moment den warmen Stallgeruch nach Heu und Stroh und das leise Geräusch mahlender Pferdekiefer. Zahlreiche Erinnerungen knüpften sich daran.
Er dachte an seine Kindheit zurück, an die Versteckspiele, die abenteuerlichen Ritte und ersten Liebschaften.
Die unbeschwerten Jahre in Schottland lagen weit zurück.
Das Knirschen hastiger Schritte im Kies schreckte ihn auf. Da kam jemand. Ein Luftzug, die Stalltür knarrte.
» Liam, bist du hier? «
Marinas Stimme ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Kurz überlegte er, sich einfach nicht zu erkennen zu geben. Doch sie musste sein Sattelzeug und die Pistole bereits entdeckt haben.
» Ich bin hier, Marina. «
Liam winkte ihr über die Boxentür zu. Die zarte Mädchengestalt kam durch die Stallgasse geeilt. Cremefarbene Seide und Spitzenstoffe wehten hinter ihr her, und ihr Haar fiel in perfekten Locken auf ihre Schultern.
Wie er sie so über das ganze Gesicht strahlend auf sich zufliegen sah, war ihm, als könne er ihr niemals wehtun, ihr nie seine Entscheidung mitteilen.
Er schaffte es gerade noch, aus der Box zu treten, als sie schon die Arme um seinen Hals schlang. Rosenparfum umwehte ihn. Vanille in ihrem Haar. Wie von allein schlossen sich seine Hände um ihre Hüften und wirbelten sie herum.
Als sie ihre Lippen auf seinen Mund drückte, wurde ihm klar, wie sehr er sie vermisst hatte. Unter dem Eindruck ihres süßen Kusses verblasste die Erinnerung an Johanna für einen Moment. Konnte er zwei Frauen lieben? War das möglich?
Schließlich löste Marina sich von ihm und legte den Kopf in den Nacken, um ihn anzusehen. Eine seltsame, nie dagewesene Distanz wuchs zwischen ihnen, fast als sei sich Marina nicht mehr so klar über ihre Gefühle wie noch Augenblicke zuvor. Dann verschwand der Anflug von Zweifel, und ihre Brauen zogen sich ein wenig zusammen, während sie ihn kritisch musterte.
» Wie geht es dir? In deinem letzten Brief hast du etwas von einer Verletzung geschrieben. «
Liam strich ihr über die Wange. Seine Finger waren so rau, verglichen mit ihrer Samthaut. Diese Frau könnte seine werden, für immer. Womöglich würden sie zusammen ein glückliches Leben führen, wenn es ihm nur gelänge,
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