Im Tal des Windes: Roman (German Edition)
schien.
Ihr Schritt war energisch wie der eines Mannes. Sie trug ein mehrfach geflicktes Kleid und einen grünen Kittel.
Zu Johannas Entsetzen entdeckte sie Fesseln an den Handgelenken der Frau. Das war eine Gefangene, eine Diebin oder, noch schlimmer, eine Kindsmörderin! Und so einer Frau sollte sie Star anvertrauen? Niemals!
» Nein, nein, lass nur « , wiegelte Johanna ab, kurz bevor die beiden bei ihr waren. » Es wird schon so gehen. «
Die Gefangene funkelte sie aus listigen Augen an.
» Jetzt bin ich schon mal hier, jetzt werde ich mir den Gaul auch ansehen « , bestimmte sie und stemmte die Hände in die Hüften.
» Treten Sie bitte zur Seite, Ma’am « , sagte Ronny, er sah zuversichtlich aus. » Abigail weiß, wie man mit Tieren umgeht, Ihre Stute ist in guten Händen. «
Zögernd trat Johanna von der Boxentür zurück.
Die Gefangene duckte sich unter einer Absperrung hindurch und beruhigte das Pferd mit leisem Murmeln. Die Dinge, die sie dabei sagte, klangen so ganz anders als die rauen Worte, die sie zuvor an Johanna gerichtet hatte.
» Hey, Ronny, steh nicht bei der feinen Dame rum, ich brauche Licht « , sagte sie schließlich.
Johanna kam dem jungen Mann zuvor und hob die Lampe über die Boxenwand, sodass die Irin die Wunde besser sehen konnte.
» Armes Mädchen, das tut sicher weh « , sagte Abigail und betastete den tiefen Riss. Als sie Johanna daraufhin ansah, war die Härte aus ihrem Blick geschwunden.
» Kannst du ihr helfen? «
Die Irin Abigail nickte. » Wenn ich Alkohol bekomme, um die Wunde zu säubern, ist der Rest nur halb so schlimm. Haben Sie Alkohol? Whiskey, Brandy, irgendetwas? «
Johanna überlegte, dachte an Arthur, der sicher noch immer sturzbetrunken war und seinen Rausch ausschlief. Aber seine Kabine war abgeschlossen. Ihr graute davor, ihn erneut zu wecken und erklären zu müssen, dass sie allein in die Frachträume gegangen war.
» Was kostet so etwas? Man kann es doch sicher kaufen. «
Wenig später war der Bursche mit ein paar Schilling losgelaufen. Für die Behandlung der Wunde war es gleich, ob sie den billigen Fusel der Seeleute benutzten oder die teuren Getränke, die im Salon der ersten Klasse ausgeschenkt wurden.
» Kann ich etwas tun? « , fragte Johanna. Sie hatte sich selten so hilflos gefühlt.
» Es ist besser, wenn wir das Pferd für die Behandlung aus der Box holen. «
Johanna nahm die Stute am Halfter, während Abigail die Tür öffnete. Star folgte ihrer Herrin mit steifen Schritten in den Gang, wo Johanna sie erneut festband.
Bald hatten die beiden Frauen alles vorbereitet. Zwei Tranlampen schaukelten an den nächstgelegenen Pfosten, und Johanna hielt eine dritte, während sie staunend zusah, wie die Irin mit offensichtlicher Routine das Pferd untersuchte.
Johanna gab es nicht gerne zu, doch sie war beeindruckt. Wenn ich das doch auch könnte, dachte sie.
» Wo hast du das gelernt? «
» Arme Leute haben kein Geld, um jemanden zu bezahlen. Entweder schafft das Vieh es mit unserer Hilfe oder eben nicht. Aber jetzt ist das ohnehin egal. «
» Warum? «
» Ich werde Irland nie wiedersehen. «
Johanna hätte gerne gefragt, was diese Frau, die nun keinen sehr Furcht einflößenden Eindruck mehr auf sie machte, verbrochen hatte, doch das wagte sie nicht. Die Fremde war ungefähr in ihrem Alter und hatte ein hübsches, etwas rundliches Gesicht und volle Lippen. Abigail wandte den Blick von ihr ab und strich Star liebevoll über die Flanke. Bei jeder Bewegung klirrten die Handschellen leise. Die Kette dazwischen fehlte, doch die geschwärzten Eisenschellen an ihren Gelenken sprachen auch so eine unmissverständliche Sprache.
Johanna schwieg, bis Ronny schließlich mit einer Flasche billigem Fusel zurückkehrte. Sie trat zurück, als sie dazu aufgefordert wurde, und beobachtete, wie man ihrer Stute die Vorder- und Hinterbeine mit Seilen aneinanderschnürte.
Ronny hielt Star mit aller Kraft am Halfter fest, während Abigail den langen Riss mit Alkohol übergoss, und doch konnte er nicht verhindern, dass die Stute schmerzgeplagt wieherte und kurz auf die Hinterbeine stieg.
» Kommen Sie her, halten Sie sie! « , forderte der junge Mann, sobald sich das Tier wieder beruhigt hatte.
Johanna hatte ihr Pferd noch nie so außer sich gesehen. Star schnaubte leise und drückte die weichen Nüstern vertrauensvoll in ihre Hand. Solange Johanna bei ihr war, blieb sie ruhig, während die Irin die Verletzung versorgte und vorsichtig verband.
» Fertig!
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