Im Tal des Windes: Roman (German Edition)
der Maori vier Tage zuvor hatten sie Schafe geschoren und junge Böcke kastriert, Zäune und das Dach der alten Scheune repariert. Bei all der Arbeit gab es keine Gelegenheit, Tamati nahezusein, der zu Abigails Verdruss jeden Abend davonritt und erst morgens wiederkam.
Am frühen Morgen des sechsten Tages hatte er das Unglück entdeckt. Einige Mutterschafe, die kurz vor dem Lammen standen, waren aus ihrem Pferch ausgebrochen. Die Tiere waren zu spät dran, viel zu spät. Eigentlich hätten sie ihre Jungen Monate zuvor zur Welt bringen sollen, doch auch manchen Tieren fiel es schwer, sich den geänderten Jahreszeiten anzupassen.
Diese drei Schafe lebten noch nach europäischer Zeit.
Abigail raffte ihren Rock, verfluchte die entflohenen Schafe und stieg den nächsten Hang hinauf. Es hatte einen Kälteeinbruch mit heftigem Wetterumschwung gegeben. Der Boden war vom Regen der letzten Tage aufgeweicht, doch zum Glück schien wenigstens heute die Sonne.
Nicht weit von ihr suchte Tamati eine kleine Schonung ab. Sie hatten das Gebiet, in dem die Tiere verschwunden sein mussten, untereinander aufgeteilt. In der Ferne, auf der anderen Seite des Tals, sah sie Hariata umherklettern. Johanna ging ein Stück unter ihr auf einem Pfad. Ausnahmsweise teilte Abigail Thomas Waters’ Meinung, dass Johanna keine schwere Arbeit verrichten sollte. Ihre Herrin war eine zarte Frau. Natürlich hatten alle Pächterinnen in ihrer irischen Heimat bis kurz vor der Entbindung geschuftet, manche waren sogar direkt auf dem Feld niedergekommen, doch Johanna war das harte Leben nicht gewöhnt.
Hinter einigen Steinen begann ein Schafspfad. Abigail kletterte hinauf und folgte der schlammigen Spur, in der deutlich frische Abdrücke zu erkennen waren. Hoffentlich war es nicht zu spät, und die Tiere hatten in der Nacht gelammt. Bei solch einer feuchten Kälte hatten sie in Irland oft über die Hälfte der Lämmer verloren. Eigentlich war Sommer, doch der ließ sich seit einigen Tagen nicht mehr blicken.
Der Pfad führte abwärts. Abigail drehte sich um. So war es einfacher, die mit glitschigem Moos bedeckten Steine hinunterzuklettern.
Als sie unten angelangt war, ging sie zu einer kleinen Schonung mit jungen Pohutukawa -Bäumen, deren feuerrote Blüten längst verschwunden waren.
Eine Hand teilte die Zweige, und ein Blätterschauer ergoss sich auf den Boden, heraus trat Tamati. Sobald sie ihn sah, erwachte eine vertraute Wärme in ihrem Körper.
Abigail lächelte und hob zur Begrüßung die Hand. Tamati zupfte sich einige lose Blätter aus dem offenen Haar und erwiderte ihre Geste.
» Hier sind sie nicht, ich habe das ganze Dickicht durchsucht. «
Für einen Augenblick hatte ihr seine Gegenwart die Sprache verschlagen. Sie wollte nicht, dass er wieder ging, ganz im Gegenteil, doch ihr fehlten die Worte und der Mut, zu ihm zu gehen.
Eine Weile lang standen sie nur da. Zum ersten Mal seit langer Zeit waren sie allein und unbeobachtet. Den Kuss vor mehr als drei Monaten hatte sie nicht vergessen, jedes Mal, wenn sie Tamati begegnete, musste sie daran denken. Abigail hatte sich in ihrer Fantasie immer und immer wieder ausgemalt, was sie tun würde, wenn sie sich wieder gegenüberstehen würden. Grübelte, ob sie seine Blicke und Andeutungen bei den seltenen Begegnungen richtig verstand oder er sich nur einen Scherz mit ihr erlaubte.
Nun war es endlich soweit, und sie schaffte es weder sich zu rühren, noch etwas zu sagen. Und dabei hätte sie ihm so viel zu erzählen. Tamati schien bis in ihre Seele sehen zu können.
Er erfüllte ihren unausgesprochenen Wunsch und schloss sie vorsichtig in die Arme. Abigail schmiegte sich an ihn und legte den Kopf an seine Brust. Es fühlte sich richtig an. Hier gehörte sie hin, zu ihm. Einige Herzschläge lang stand sie nur da, dann ließen sie seine Hände ihre Schüchternheit vergessen.
Abigail wusste nicht, was in sie gefahren war, doch sie wollte endlich das tun, wonach sie sich mit jedem Tag mehr gesehnt hatte. Seine Haut war weich unter ihren Lippen. Sie roch nach Sonne, würzigem Leder und den Anstrengungen des Tages.
Tamatis Kehle entstieg ein tiefes, sehr männliches Seufzen. Seine Hände umfassten ihre Taille und pressten sie an sich. Abigail hielt gespannt den Atem an, grub ihre Hände in sein dickes Haar und zog seinen Kopf herunter, bis sich ihre Lippen berührten. Er brauchte keine zweite Einladung. Der Kuss war leidenschaftlich und riss sie aus der Realität, in eine Welt, in der nur noch sie
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