Im Tal des Windes: Roman (German Edition)
Wald, dorthin, wo die Götter wohnen. «
Johanna zog die Stirn kraus. Das würde dem Missionar natürlich nicht gefallen, und Thomas sicherlich auch nicht. Doch genau das zu tun, was ihr Ehemann, der sie ständig bevormundete, nicht guthieß, hatte in den vergangenen Wochen einen immer stärkeren Reiz gewonnen. Seit ihrer Schwangerschaft war er immer herrischer geworden und hätte sie wohl am liebsten eingesperrt, um sie und das ungeborene Kind zu schützen. Johanna wusste, dass er es aus Liebe zu ihr tat. Er liebte sie mit jeder Faser seines Körpers auf eine besitzergreifende Weise, und er wurde ihr immer fremder. Sie gab sich dennoch Mühe, ihm seinen Willen zu erfüllen und zu tun, was er sagte, doch hin und wieder wurde der Druck zu groß, und sie wollte nur noch raus aus diesem Gefängnis aus Bitten und Beschwörungen.
» Werden deine Götter nicht wütend, wenn du mich mitnimmst? « , erkundigte Johanna sich, weil ihr der Gedanke nicht ganz geheuer war.
Hariata stemmte eine Hand in die Hüfte.
» Ganz im Gegenteil, sie sind schon wütend, weil die Pakeha immer nur nehmen und nehmen und nie etwas zurückgeben. Sie warten darauf, dass ihr sie besucht, schon lange. «
Johanna schluckte. Sie glaubte eigentlich nicht an Geister, aber mit den Göttern dieser Wilden hatte es vielleicht doch etwas anderes auf sich. Johanna hatte die Bibel aufmerksam und mehr als einmal gelesen und erinnerte sich deutlich, dass dort zwar stand, dass es es nur einen wahren Gott gab, aber nicht, dass kein anderer existierte.
» Nun machen Sie nicht so ein Gesicht! Ihnen passiert nichts. «
Kurz darauf trug Johanna das schlichte, alte Kleid, in dem sie auch die Gartenarbeit verrichtete, und folgte Hariata einen schmalen, schlammigen Pfad den Hang hinauf. Der Wald begann genau am Hügelkamm. Palmen und Baumfarne neigten sich weit nach vorn, wie übermütige Kletterer, die einen Blick in die Tiefe erhaschen wollten. Unter den Kronen der Kahikatea -Bäume regierte dunkelgrüne Finsternis. Farnartige Gewächse erhoben sich zwischen den Stämmen und reckten ihre fein gefiederten Silberblätter in den schummerigen Halbschatten.
Seit ihrem Ritt von Petre zum Lake Tarapunga war Johanna nie wieder im Wald gewesen. Und erst recht nicht zu Fuß. Das dichte Pflanzengewirr machte ihr Angst, doch das wollte sie vor Hariata nicht zugeben, die schon bei ihrem Aufbruch mehrfach beteuert hatte, es gäbe dort keine gefährlichen Tiere.
Daher stapfte sie unverdrossen hinter der älteren Frau durch den Schlamm und ertrug schweigend die dicken Wassertropfen, die hin und wieder herabfielen. Wenigstens schützte das dichte Blätterdach vor dem Regen, der vor Kurzem wieder eingesetzt hatte. Eine Hand auf dem schwellenden Bauch, begann sie den ungewöhnlichen Ausflug zu genießen.
» Kommen Sie hier entlang. Ich will Ihnen etwas zeigen « , forderte Hariata sie mit einem Mal auf und bog die Äste eines Strauchs zur Seite. Der Weg war völlig überwuchert. Johanna wurde wieder unbehaglicher zumute, aber sie konnte jetzt keinen Rückzieher mehr machen. Dennoch nagten Zweifel an ihr. Wer konnte schon sicher sagen, ob Hariata nicht doch mit den rebellischen Maori zusammenarbeitete, die ein Stück weiter bereits mehrere Farmen überfallen und die Bewohner erschlagen hatten. Doch ihre Bedenken waren grundlos.
» Wir sind angekommen « , erklärte Hariata.
Sie hatten eine kleine Lichtung erreicht. Halb unter Schlingpflanzen verborgen standen mehrere mit prächtigen Schnitzereien verzierte Hütten. Die verschlungenen Figuren von Menschen und Ungeheuern waren von grünem Moos überzogen.
In den Gärten schossen junge Bäume empor und gierten nach Sonnenlicht.
Johanna drehte sich um die eigene Achse und konnte sich an dem verwunschenen Dorf nicht sattsehen. Was für ein romantisches Plätzchen mitten im Wald.
» Wo sind wir hier? «
» Hier bin ich geboren, dieses Dorf war mein Zuhause. Vierundachtzig Menschen haben hier gelebt. « Hariata gab einen Klagelaut von sich und wandte sich ab.
Eine plötzliche Windbö bedachte sie mit einem Schauer aus Wassertropfen, und Johanna bekam Gänsehaut auf den Armen. Sie begann zu ahnen, dass dieser Ort alles andere als ein verwunschenes Paradies war. Ganz im Gegenteil.
» Was ist hier passiert? «
» Ein Freund meines Bruders, der schon früh für die Pakeha gearbeitet hat, kam her. Er war krank. Das Fieber der weißen Männer hatte von ihm Besitz ergriffen. Unser Tohunga matakite, ein Mann, der die Zukunft lesen
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