Im Tal des Windes: Roman (German Edition)
sie die heiligen Regeln verletzen würde, wenn sie nicht genau achtgab.
Tamati führte an einem geheimen Ort im Wald Tätowierungen durch. Abigail durfte weder den Platz und erst recht nicht die Hütte betreten, doch das war in Ordnung, wenn er nur zu ihr käme.
Abigail zügelte ihr verschwitztes Pferd. Hier musste es irgendwo sein. Den markanten Felsen, auf dem ein verkrüppelter Pohutekawa-Baum wuchs und den Stein mit seinen sehnigen Wurzeln umschloss, sah sie bereits.
Sie beschirmte die Augen. Da, im Schatten des Felsens zwischen Sträuchern verborgen, begann ein Pfad. Sobald die grüne Wand durchbrochen war, weitete sich der Weg und führte durch einen lichten Warzeneibenwald bergauf. Abigail trieb ihr erschöpftes Tier mit einem Schnalzen an. Die Stute schnaubte widerwillig, verfiel dennoch gehorsam in einen zockeligen Trab.
Bald ragten hier und da überlebensgroße Holzfiguren auf und starrten sie grimmig aus Muschelaugen an. Die Tiki markierten heilige Orte, das wusste sie mittlerweile. Jetzt konnte es nicht mehr weit sein.
Leise Gesänge und monotoner Trommelschlag hallten durch den Wald. Der Unterbewuchs wurde wieder dichter, als die Bäume sich zu lichten begannen.
Plötzlich rannte wie aus dem Nichts ein junger Mann auf siezu, griff Abigail nach den Zügeln und brachte ihr erschrockenes Pferd unsanft zum Stehen. Er schrie sie an. Erst auf Maori, dann mischten sich englische Worte hinein. » Verschwinde! «
» Nein. Ich muss mit Tamati Maunga sprechen. «
» Verschwinde, Frau! Dies ist ein heiliger Ort. «
» Das weiß ich. Aber ich muss mit dem tahunga ta moko sprechen! Vorher gehe ich nicht. « Sie blickte den jungen Mann eindringlich an, damit er sah, wie ernst es ihr war. Ein zweiter kam hinzu, und sie besprachen sich kurz.
Der ältere von beiden musterte den Federumhang, den sie von Tamati zu ihrer Verlobung geschenkt bekommen hatte, und nickte schließlich.
» Tamati Maunga ist hier. Doch er kann jetzt nicht mit dir sprechen. Wenn du willst, warte. «
Abigail fühlte sich mit einem Schlag viel leichter. Sie stieg aus dem Sattel und folgte dem jungen Mann. Er führte sie durch das Dickicht aus Schwarz- und Silberfarn, das die Lichtung überwucherte, und setzte sich mit ihr an ein kleines Feuer, das am Rand brannte.
» Du darfst keinen Schritt weitergehen « , ermahnte er sie.
» Ich verspreche, dass ich hier warte. «
» Gut. «
Abigail hätte nicht gedacht, dass es so lange dauern würde. Die Lichtung war ein unheimlicher Ort. Überall standen Furcht einflößende Tiki. Dazwischen eine Hütte, in der sie Tamati vermutete. Unter roh gezimmerten Unterständen, deren Dächer mit frischen grünen Nikau-Zweigen gedeckt waren, ruhten sich zwei junge Männer aus. Sie hatten die Prozedur schon hinter sich. Einer lag auf dem Bauch auf einer Matte und stöhnte immer wieder leise, als hätte er Fieber und große Schmerzen. Zwei ältere Männer waren damit beschäftigt, ihm kühlende Umschläge auf den Rücken zu legen, der eine einzige blutige schwarze Fläche zu sein schien. Unter dem zweiten Unterstand lag ein junger Mann, der das Tätowieren besser verkraftet hatte. Er saß aufrecht da und betrachtete mit stiller Faszination seinen linken Arm, der wie seine linke Brust großflächige schwarze Ornamente aufwies. Er hatte nur hier und da kleine blutende Wunden, die meisten hatten sich bereits geschlossen.
Erst als die Sonne unterging, verstummten in dem Haupthaus die Trommeln, und in Abigail machte sich eine nervöse Unruhe breit.
» Gleich soweit « , bestätigte ihr schweigsamer Bewacher, der sie keinen Moment aus den Augen gelassen hatte.
Zuerst verließ ein gebeugter alter Mann die Hütte und blies in eine große weiße Muschel. Dann endlich kam Tamati. Sie erkannte ihn sofort. Selbst unter den Kriegern war er einer der eindrucksvollsten.
» Du wartest hier « , beschied der junge Mann und lief zu Tamati. Abigail beobachtete mit angehaltenem Atem seine Reaktion.
Tamatis Kopf fuhr herum, dann kam er mit versteinerter Miene auf sie zu.
Abigail stand hastig auf. Ihre Beine schmerzten vom langen Sitzen.
Tamati fasste sie unsanft am Oberarm und zog sie mit sich fort. Abigail folgte ihm durch das Buschwerk in das Dunkel des Waldes, dort ließ er sie los und sah sie lange an.
» Ich gebe dich nicht auf « , verkündete Abigail entschlossen. » Du kannst mich nicht einfach fortschicken und für etwas bestrafen, das ich nicht getan habe! Ich liebe dich ja auch nicht weniger, weil irgendwo
Weitere Kostenlose Bücher