Im Tempel des Regengottes
aufsprang und auf ihn zueilte, wie Robert seine Arme um sie schloß und sie ihre Wange an seine Brust schmiegte, wie er auf sie herablächelte mit seinen wasserblauen Augen, deren Blick allerdings gerade jetzt weit über sie hinwegging.
Im Schutz ihres nach vorn gerutschten Turbans folgte sie seinem Blick, indem sie ihre Augen stark verdrehte, ohne den Kopf zu bewegen. Mr. Thompson sah zu einem Ruinengemäuer empor, einer halb zusammengestürzten, riesenhaften Pyramide zu seiner Rechten, die weit oben, knapp unterhalb des von Buschwerk überwuche rten Firstes, eine schmale Luke aufwies. Ihre Augen schmerzten, so angestrengt schielte Helen an der löchrigen Fassade empor, und nur für einen winzigen Moment erblickte sie die Gestalt dort droben in der Luke, doch lange genug: Ixnaay, kein Zweifel, sie war es, ihre hohe Gestalt in der weißen Tunika. Beschwörend sah sie Robert Thompson an, und inständig erwiderte er ihren Blick, dann wich sie zurück in die Dunkelheit der Ruine.
Helens Blick haftete noch einen Moment lang an der leeren Luke, dann sah sie aufs neue zu Robert Thompson, dessen Gesicht von innen heraus zu leuchten schien. Eine Woge stob in ihr empor, ein Schmerz, als ob etwas aus ihr herausgerissen wurde, und auf einmal glaubte sie zu verstehen oder zumindest zu erahnen, warum Robert Thompson so bereitwillig in die Rolle des Götterboten geschlüpft war, in die ihn die Mayapriester gedrängt hatten:
Er liebt Ixnaay, sinnlos es zu bezweifeln, dachte sie, und das Herz wollte sich ihr zusammenkrampfen: Er hatte zu Ixnaay aufgeblickt, inständig und vertrauensvoll, wie nur ein Liebender die Geliebte ansah.
Sie mußte sich bezwingen, um ruhig, mit gebeugtem Rücken, in der Menge zu verharren, anstatt aufzuspringen, wie es ihrer inneren Bewegung entsprochen hätte. Aber warum nur, überlegte sie weiter, war Ixnaay nicht mit ihnen zusammen, in der Prozession der Priester und Krieger, hierher gewandert, und vor wem verbarg sie sich noch hier in Kantunmak? Schon während ihres langen Marsches durch den Dschungel hatte Helen immer wieder über der Frage gegrübelt, welche geheimen Ziele Ixnaay verfolgen mochte. Sie schien in den Plan der Indios eingeweiht, einen letzten, verzweifelten Aufstand gegen ihre Unterdrücker zu wagen. Aber Ixnaay kannte sich auch in der Welt dieser britischen Herren aus, sie sprach ein makelloses Englisch, und sie stand in (möglicherweise erpresserischer) Verbindung mit dem hochrangigen Kolonialbeamten James Sutherland.
Die Sonne brannte vom Himmel herab, die Ruinen und Trümmer längst vergangener Macht vergoldend, und Helen dachte: Zweifellos wußte Ixnaay, daß selbst hunderttausend Mayakrieger, bewaffnet mit Speeren und Blasrohren, von den königlichen Kanonieren im Handumdrehen niedergemetzelt würden und daß auch hunderttausendfacher Glaube, die alte Prophezeiung sei eingetroffen, der Götterbote zurückgekehrt, das Blatt nicht wenden könnte. Und folglich war sie wohl deshalb im geheimen hierher geeilt, weil sie die Kriegspläne ihres Volkes zu durchkreuzen, das Blutbad im letzten Moment noch abzuwenden hoffte - und hierfür benötigte sie Robert Thompsons Hilfe.
Aber wie konnte er ihr hierbei nützlich sein? Aufs neue spähte Helen zu ihm empor, in sein hohlwangiges, wirrbärtiges Gesicht, das einen ganz und gar entrückten Ausdruck trug. Hoffte Ixnaay womöglich, daß Mr. Thompson die ihm zugefallene Autorität eines Götterboten nutzen würde, um namens der himmlischen Mächte zum Frieden aufzurufen statt zu einem Krieg, der den Untergang ihres Volkes besiegeln würde?
Helen spürte, daß es sich so und nicht anders verhielt, daß Ixnaay hoffte, Robert Thompson in ihrem Sinn lenken zu können, und daß sie gewiß auch aus Liebe handelte, aber aus Liebe zu ihrem unterjochten Volk. Möglich, daß sie auch für Robert Thompson gewisse Gefühle hegte, möglich sogar, daß auch Ixnaay dem Reiz der alten Prophezeiung ein klein wenig erlegen war. Aber ihr ganzes Wesen wirkte so schwermütig, so sehr auf düstere, rächerhafte Weise zielgerichtet, daß der Gedanke abwegig schien, sie könnte sich von romantischen Gefühlen, und gar für einen weißhäutigen Liebhaber, leiten lassen.
Ach, Ixnaay, Schwester, dachte Helen, der das Herz immer schwerer wurde, wenn deine Hoffnungen tatsächlich auf Robert Thompson beruhen, ist dein Scheitern schon gewiß. Seit Robert in die Rolle des Götterboten geschlüpft war, wandelte er dahin wie in Trance, wie jemand, der endlich gefunden
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