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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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hatte, was er zeitlebens suchte: seinen Untergang. Sie selbst hatte es lange Zeit nicht wahrhaben wollen - einen halben Schritt hinter ihm durch den Wald wandernd, hatte sie Ja'muchs Reden übersetzt und nur darauf gewartet, daß sich Mr. Thompson durch einen Ausruf, eine Geste aus dem Gespinst der Prophezeiungen, Irrtümer und Verdrehungen befreien würde, mit dem der Regengottpriester ihn umwob. Erkannte Robert denn nicht, daß die allgemeinsten Ähnlichkeiten genügt hatten, um ihn als vermeintlichen Götterboten zu identifizieren? Nein, er bemerkte es offensichtlich nicht, kein Lügengefühl schien ihn zu warnen, im Gegenteil: So bereitwillig hatte er sich in die ihm aufgedrängte Rolle geworfen, als hätte er gerade in ihr eine langgesuchte Wahrheit und Wirklichkeit entdeckt.
    Und wenn es genau so wäre?, überlegte sie dann. Wenn in der alten Lehre von Wiederverkörperung und vielfältigen Himmelsmächten eine höhere Wahrheit läge, in deren Angesicht er sein ganzes bisheriges Leben als Wirrwarr aus Lügen und Täuschungen durchschaut hätte? Helens Gedanken gerieten ins Stocken, sie spürte, daß sie an diesem Punkt nicht weiterkommen würde, wie schon so oft in ihrem Leben zuvor.
    Wie häufig hatte sie früher die dunkelhäutigen Küchenmädchen in Sutherland House von ihren Göttern sprechen hören, von Erweckungszauber, umhergeisternden Ahnen und dem heiligsten Geheimnis ihres Glaubens: dem Wunder der Wiederverkörperung. Doch für sie war es immer nur Aberglaube gewesen, törichte Verdrehungen, wie sie allerdings auch den himmlischen Verheißungen der Anglikanischen Kirche schon als junges Mädchen mißtraut hatte. Wo andere sich gläubig hingaben, entzifferte sie stets nur Lügen und Verdrehungen, und so hellsichtig sie in irdischen Dingen zwischen Täuschung und Wahrheit zu unterscheiden vermochte, so blind fühlte sie selbst sich fast immer, wenn es um übernatürliche Belange ging.
    »Ajk'ub' Maya'ib, nojochk'inb'il - Retter der Maya, wir preisen dich!« Die Menge schrie nun die lobpreisende Formel, wieder und wieder, laut und kreischend, wie die hunderttausend Urwaldvögel den allmorgendlichen Sonnenaufgang beschrien. Robert Thompson würde seine Rolle als wiedergekehrter Götterbote bis zum prophezeiten Ende weiterspielen, sagte sich Helen, dessen zumindest war sie sicher, und auch seine Liebe zu Ixnaay würde ihn nicht davon abbringen, mit der Unbeirrbarkeit eines Schlafwandlers in den Tod zu gehen.
     
    Mabo stieß sie von der Seite an und schreckte sie aus ihren Grübeleien auf. Eben beugte sich Robert zu Ja'much herab, der gleichfalls auf die Knie gefallen war, und sagte einige Worte zu dem alten Priester, sicherlich in dem bruchstückhaften Quiché, das er sich während ihrer Wanderung angeeignet hatte.
    »Ajkinsaj«, las Helen von seinen Lippen, »Todbringender.« Sie rückte ihren Turban zurecht, der ihr halb in die Stirn gerutscht war, und erhob sich ebenso wie alle anderen, um zwischen Mabo und Ajkech weiterzuschreiten, auf einen breiten, mit Buschwerk und Bäumen bewachsenen Tafelberg im Hintergrund der riesigen Ruinenstadt zu.
    Ich liebe und begehre Sie, Mr. Thompson, dachte Helen, warum es mir nicht eingestehen: Sie wissen kaum, daß es mich gibt, Sir, aber ich liebe Sie. Du verwechselst mich mit einem Pferdeburschen, Robert, mit einem gewissen Henry O'Rooney, den du manchmal anlächelst mit einer Zärtlichkeit, die uns beide verwirrt. Ich will versuchen, dich zu retten und für mich zu gewinnen, auch wenn ich gleich zwei romantische Rivalen besiegen muß, nach deren Umarmung du dich sehnst, Geliebter: Ixnaay und den Tod.

4
     
     
    »Die Ka'ana, der Palast des Himmels.« Ja'much deutete auf den gewaltigen Hügel, der sich vor ihnen erhob, dreihundert Fuß hoch und wenigstens dreimal so breit. In steiler Schräge ragte er vor ihnen auf, dicht an dicht mit Büschen und Bäumen bewachsen, zu seinem Gipfel hin von Nebelschleiern umgeben, eher ein kleiner Berg als ein Hügel.
    »Palast des Himmels?« wiederholte Robert, wobei er erst Ja'much, dann Henry zweifelnd ansah. Vielleicht hatte der Mestize die Worte des Priesters ja falsch übersetzt? Dieser Berg war von so gewaltiger Höhe und Breite, daß es sich unmöglich um ein verschüttetes Bauwerk handeln konnte.
    Mehr als eine halbe Stunde lang waren sie durch die Straßen von Kantunmak gezogen, an der Spitze der schweigenden Prozession. Die heilige Stadt war von riesenhafter Ausdehnung, weitaus größer, als er es sich jemals ausgemalt

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