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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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neben ihm einen Arm, und die Wächter links des Weges traten zur Seite und gaben den Blick auf eine Steinsäule frei. Eine Hand legte sich auf Roberts rechte Schulter, er blieb stehen und blinzelte mit brennenden Augen zu der verwitterten Säule hinüber, noch immer ohne zu begreifen.
    Die Säule mochte zehn Fuß hoch sein und vom Umfang eines wohlgenährten Mannes. Glyphen und winzige Bildnisse waren in den hellen Stein geritzt, und trotz seiner Müdigkeit kroch in ihm wieder die Angst hoch, daß man ihn auffordern könnte, die Schriftzeichen zu entziffern. Diesmal schaffte er es, seine Linke zu heben und sich die triefendnassen Haare aus der Stirn zu streichen. Eine zweite Hand legte sich auf seine linke Schulter, aber er war zu müde, um auch nur nach hinten zu sehen.
    Ja'much bellte einen Befehl. Sogleich wandte sich einer der Wächter um und schob einige Blätter und Ranken beiseite, die in Roberts ungefährer Kopfhöhe die Säule verdeckten. Eine hohe, hagere Gestalt im Halbrelief, von Glyphenmustern umschlungen, darüber schwebend, seltsamerweise, ein geflügeltes Pferd. Ein Gitter feiner grünlicher Streifen, Moos oder Moder, lief kreuz und quer über die Säule, was beinahe den Eindruck erweckte, als stünde sie am Grund eines Gewässers, mit Tang bedeckt. Da erst begriff er, mit einem Schlag, so daß sich sein Magen zusammenzog. Die Hände auf seinen Schultern versetzten ihm einen Stoß, und er wankte auf die Säule zu, so rasch, daß er beinahe das Gleichgewicht verlor.
    Oft und oft erträumt, dachte er, und doch ganz unmöglich. Oder etwa nicht? Er starrte auf die Säule. Das hohlwangige Gesicht, wirrbärtig, mit verhangenem Blick. Die ganze knochige Gestalt, sie glich ihm so unverkennbar, daß er trotz seiner Mattigkeit eine tiefe Bestürzung fühlte. Es war kein eigentliches Erschrecken, eher so, als ob etwas in ihm nachgäbe, das schon lange vorher erschüttert worden war. Mein steinernes Spiegelbild, dachte er: ich, ich, von Kopf bis Fuß ich, ohne jeden Zweifel.
    Er fühlte einen sausenden Schwindel und tastete mit seiner Rechten zu der Säule hin, um sich festzuhalten, aber der Wächter, der eben die Ranken beiseite geschoben hatte, hob warnend die Hand. Da taumelte Robert zur Seite, erschrocken und noch immer schwindlig vor Bestürzung und Mattigkeit. Für einen Moment schloß er die Augen. Als er sie wieder öffnete, fiel sein Blick auf die Stele, die linker Hand neben der Säule des Götterboten stand, ein wenig kleiner und vom Zweigwerk halb verdeckt.
    Ixkukul. Verzaubert sah er sie an. Als wollte sie gleich aus der Säule hervortreten, so plastisch stand sie vor ihm, ihre hohe, schlanke Gestalt im Halbrelief. Sie ist es, kein Zweifel, dachte Robert wieder und mußte lächeln vor glückseliger Überraschung, trotz seiner Mattigkeit. Wie schön sie ist, wie wunderschön. In einem langen, enganliegenden Gewand stand sie da, die vollen Lippen ein wenig geöffnet, und ihr Blick lag auf ihm, ernst und drängend, wie sie ihn in Fort George angesehen hatte und in Chul Ja' Mukal. Über ihrem Kopf schwebte ein stilisierter Halbmond, eine linker Hand geöffnete
    Sichel, in der, wie auf einer Schaukel, ein Kaninchen oder kleiner Hase saß.
    Wieder und wieder sah Robert von einem Bildnis zum anderen, von Ixkukul zum steinernen Spiegel seiner selbst, und ihm war, als ob wahrhaftig die Erinnerung in ihm lebendig würde, wie der alte Priester Cha'acs es vorausgesagt hatte: an Ixkukul und ihn selbst, ihre Liebe, ihr Sterben, vor hundertachtzig Jahren in Tayasal.

2
     
     
    Der Durchlaß war schmal und so finster, als ob er unter der Erde verliefe. Robert taumelte hinein, geschoben von Ja'much, der ihm weiterhin dichtauf folgte. Schritt um Schritt wankte er durch die Dunkelheit, auf den matten Lichtfleck am anderen Ende des Ganges zu. Mit den Fingern tatstete er nach links und rechts und erfühlte uralte Mauern, verwittert und von Nässe zerfressen. Ein überwältigender Schimmelgeruch ging von den Steinen aus, und unter seinen Füßen fühlte er warmen, schleimigen Schlamm. Noch immer lag Ja'muchs Hand auf seiner Schulter, schwer und hart wie ein Stein. Der Gang hinter ihm war erfüllt von den trappelnden Schritten der Priester, Krieger und Jäger, die so zahlreich mit ihnen hierher gezogen waren, doch weiterhin sprach niemand auch nur ein Wort. Es war so still, wie wenn man im Traum den Atem anhält und alles ringsum erstarrt.
    Endlich erreichte er das jenseitige Ende des Gewölbeganges. Fahles Licht erhellte

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