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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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hatte. In feierlicher Stille waren sie durch breite Alleen geschritten, auf ebenmäßigen Wegen, zwischen Palästen und Pyramiden, schmucklosen Bauten und reich verzierten Tempeln von so gewaltiger Zahl und Größe, daß es ihm schier die Sprache verschlug. Selbst Stephen und Paul, die zwei Schritte hinter ihm liefen, schienen beeindruckt und steckten nur ab und an die Köpfe zusammen, um sich flüsternd zu besprechen.
    Zehntausende Menschen mußten hier einmal gelebt haben, dachte Robert auch jetzt wieder, Krieger und Priester, Edelleute und einfache Handwerker, aber vor wie langer Zeit? Einst mußte Kantunmak eine Metropole im Dschungel gewesen sein, vor tausend Jahren oder mehr, als London höchstens ein öder Flecken an der Themse war. Heute aber schien nicht ein einziges dieser Tausende prachtvoller Bauerwerke mehr bewohnbar, es waren allesamt Ruinen, zerbröckelt, überwuchert, mit Wald und Schlamm bedeckt. Tatsächlich, sagte sich Robert, ähnelte Kantunmak am ehesten jenen urweltlichen Städten seiner Hypnoseträume, in die Grimaldi ihn mehrfach versetzt hatte: Städten auf dem Grund der Meere, mit modrigen Chausseen, schlammgefüllten Häusern, in denen allenfalls noch fahle Fischwesen hausten, muränenhafte Monstren von glotzäugiger Melancholie.
    Mit einer schroffen Gebärde deutete Ja' much abermals auf die Flanke des Berges. Erneut stieß er einen Wortschwall aus, und seine Miene wirkte noch finsterer als gewöhnlich, angespannt und drohend. Mit dem Blick folgte Robert seinem ausgestreckten Arm, doch er sah weiterhin nichts als eine erdige Schräge, von Wurzeln durchflochten, mit Schlamm bedeckt.
    »Er sagt, es sei kein Berg«, flüsterte Henry, »sondern die Ka'ana, der Palast des Himmels, in dem Ajkinsaj residiere, der oberste Priester Cha'acs und Herrscher von Kantunmak.«
    Der alte Priester hob seine Hand, als wollte er Robert packen und den Berg hinaufziehen. Doch dann ließ er den Arm wieder sinken, offenbar hielt er es nicht mehr für ratsam, den Götterboten mit barschen Griffen zu dirigieren, wie während ihrer dreizehntägigen Wanderung durch den Wald. Etwas hatte sich verändert, dachte Robert, seit die Menge auf dem runden Platz vor ihm auf die Knie gefallen war.
    Er warf einen raschen Blick über die Schulter zurück, die Allee entlang, die, soweit man sehen konnte, mit schweigenden Menschen gefüllt war. Ihre Anzahl schien sich immer noch zu vermehren, und das bedeutete wohl, daß diese Ruinenstadt, entgegen dem Anschein, doch bewohnt sein mußte. »Also gehen wir hinauf«, sagte er zu Ja'much.
    Noch ehe Henry seine Worte übersetzt hatte, nickte der alte Priester und machte sich an den Aufstieg, ohne sich noch einmal nach ihnen umzusehen. Robert und die Gefährten folgten ihm, ebenso die sechs jungen Priester Cha'acs, die Schlingen noch in den Händen, während die Menge am Fuß des Berges zurückblieb.
    Wenige Schritte auf der schlüpfrigen Schräge genügten, um Robert in Erinnerung zu rufen, wie ausgelaugt sein Körper nach den Strapazen ihres Dschungelmarsches war. Sein Herz begann schnell und holprig zu schlagen, und bei jedem Schritt protestierten seine Beine mit brennendem Muskelschmerz. Auch der Schweiß troff ihm sogleich wieder aus allen Poren, obwohl die Sonne hinter schwarzen Wolken verschwunden war und nur fahles Licht auf sie herabfiel. Haltsuchend legte er einen Arm um Henrys schmale Schultern und wunderte sich flüchtig darüber, daß der Bursche unter seiner Berührung zu erstarren schien.
    Die Flanke des Bergs war mit Erde, Buschwerk und rauhen Gräsern bedeckt. Hier und dort glaubte er unter Schlamm und Gewucher die Umrisse einer Stufe zu erkennen oder einige Reihen regelmäßig gemauerter Steine. Aber das mußte Täuschung sein, sagte er sich wieder, dieser Berg war von so gewaltigem Umfang, daß es sich unmöglich um ein verschüttetes Bauwerk handeln konnte. Allenfalls mochte es sein, daß sich der Palast auf dem Berggipfel befand, umhüllt von Nebelschleiern. Er hatte es kaum gedacht, als Ja'much, der ihnen um fünf Schritte voraus war, so plötzlich verschwand, als ob ihn der Berg verschlungen hätte.
    Vorsichtig ging Robert weiter, Henry mit sich ziehend, bis zu der Stelle, wo der Priester unsichtbar geworden war. Ein gemauerter Einlaß, hinter Büschen versteckt, führte in das Innere des Berges. Er warf einen Blick zurück, die Gefährten waren schon alle dicht heran, ebenso die jungen Priester in den grauen Gewändern. Fünfzehn Schritte unter ihnen verharrte

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