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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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ausgemergelte Gestalt des Chilam Balam, den nackten Zwitterleib mit den hängenden Brustsäcken und dem welken Glied zwischen den Schenkeln. »Du bist, was du siehst«, rief der oberste Jaguarpriester ihm mit pfeifender Stimme zu, und noch während Robert über dem Rätselwort sann, verblaßte die Erscheinung wieder. Die Jaguarpriester sangen nun eine langsame, rhythmische Folge fauchender Laute, und es schien Robert, als liege er nicht länger auf einem steinernen Altarblock, sondern treibe auf sanften Wellen, in die er wieder und wieder einsank, ohne jemals unterzugehen. Seine angstvolle Anspannung begann zu schwinden, als ob die Erscheinung des Chilam Balam einen Ausgleich geschaffen hätte zwischen den rauhen Berührungen der Priester und der India unter ihm, deren Beine sich an die Unterseite seiner Schenkel schmiegten.
    Mit Gebärden und Berührungen drängten ihn die Jaguarpriester, sich bäuchlings umzuwenden, und erst als Robert sich herumgewälzt hatte und die kühle Flüssigkeit schon auf seinen Rücken strömte, wurde ihm bewußt, daß er nun Wange an Wange auf Ixnaay lag, seine Brust auf ihre Brüste pressend und ihre Hüften an seinen Lenden.

6
     
     
    »Ich bin im tiefsten Wald zur Welt gekommen«, sagte sie, »in einem kleinen Dorf in Guatemala, zwei Tagesreisen südlich von Tayasal. Unsere Siedlung hieß Ixt'u'ulchac, Rote Häsin, und ich war noch nicht sieben Jahre alt, als sie von Plünderern gänzlich verwüstet wurde. In der Nacht fielen sie über uns her, stahlen unsere Vorräte und zündeten unsere Hütten an. Viel furchtbarer aber war, was mit den Menschen geschah: Unsere Mädchen und jungen Frauen, Jungen und Männer wurden allesamt massakriert. Als die Mörder endlich weiterzogen, war unser Dorf nur noch ein qualmender Aschehaufen, in dem einige wehklagende Greise scharrten.«
    Sie unterbrach sich und blickte ihn von der Seite her an, und Robert sah, daß ihre großen schwarzen Augen schimmerten. Er wollte ihr zulächeln, aber sein Gesicht war eine hölzerne Maske, in der sich kein Muskel regen ließ. Als sie weitersprach, hatte er nach wie vor Mühe, sich auf ihre Worte zu konzentrieren. Noch immer bestürzte es ihn, so nahe neben ihr zu sitzen, Schulter an Schulter im hellen Tageslicht. Noch immer konnte er sie nicht ansehen, ohne daß ihm siedend heiß wurde, vor Scham und Verwirrung, längst nicht mehr vor Lust. Noch immer schien ihm unbegreiflich, daß er wahrhaftig geglaubt hatte, sie unter sich zu fühlen, ihren warmen, lebendigen Körper, sogar ihren Atem in seinem Genick. Dabei war es nur ein steinernes Relief gewesen, angewärmt von seinem eigenen Körper, erhitzt nur durch seine eigenen lüsternen Gedanken, die lebensgroße Figur einer Priesterin, in den Altarblock gemeißelt, der in alter Zeit in einem Tempel Ixquics gestanden haben mochte.
    Forschend sah sie ihn an, ihre Tunika mit Moder und Unrat befleckt, aus der engen Mauernische, in der sie sich während der Zeremonie verborgen hatte. Während er noch benommen auf dem Altarblock lag, hatte sie, kaum daß die Jaguarpriester wieder davongetappt waren, eine geheime Luke in der Außenwand geöffnet und war hier herausgetreten, auf den First der Pyramide. Zögernd hatte er sich erhoben, zu seiner Bestürzung am ganzen Körper mit einem kalkigen Weiß bestrichen, der Farbe seiner Rasse, aber mehr noch dem fahlen Ton des Todes. Im Schatten des flachen Tempels, der sich auf dem gewaltigen Bauwerk erhob, hatte sie längere Zeit wortlos gesessen, auf der dem Platz abgewandten Seite, und er war um sie herumgeschlichen, von Schuldgefühl niedergedrückt. Irgendwann hatte sie ihn neben sich auf die steinerne Bank gezogen und leise zu sprechen begonnen, in melodisch verfremdetem Englisch, das wie eine zauberhafte Traumvariante seiner Muttersprache klang. Seither glaubte er in jedem ihrer Worte einen geheimen Doppelsinn zu hören, als ob sich Schmach und Angst, die sie heute durch ihn erlitten hatte, in den Schrecknissen ihrer Kindheit widerspiegelten.
    »In meiner Erinnerung«, fuhr sie leise fort, »drängen sich diese frühen Jahre zu wenigen Bildern zusammen. Wir spielen auf dem Dorfplatz, eine Horde nackter Kinder, ich könnte gar nicht sagen, welches dieser Kinder ich selbst bin und welche die anderen sind. Kleine Hunde tollen mit uns herum, schwarz getupfte Schweinchen und andere zahme Tiere. Die Äste über uns sind schwer von Früchten und bunt von Vögeln, die den lieben langen Tag singen und girren. Der Gesang der Vögel und

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