Im Tempel des Regengottes
die dünnen Rufe der Spinnäffchen, die Gerüche der Früchte und Pflanzen, des Waldes und seiner Bewohner sind für uns wie ein Konzert von Stimmen und Düften, in dem sich alles vereint, unsere Seelen, der Geist des Dorfes und des Waldes, so daß nichts und niemand sich jemals einzeln und abgetrennt fühlt.«
Wieder unterbrach sich Ixnaay und sah ihn von der Seite an. Hinter ihnen, gedämpft durch die Entfernung und den Tempelbau, an dessen massiver Steinwand sie mit den Rücken lehnten, erklangen noch immer die Rufe der Menge unten auf dem Platz. Robert erwiderte ihren Blick, und diesmal brachte er auch ein hölzernes Lächeln zustande, betört durch das Leuchten in ihren Augen, das allerdings wohl nicht ihm galt, sondern der Widerschein ihrer Erinnerung war.
»Ein anderes Bild«, sagte Ixnaay, »ich nenne sie immer Bilder, obwohl zu jedem von ihnen auch Laute und Düfte gehören. Die Frauen von Ixt'u'ulchac: In einem großen Kreis sitzen sie zwischen den Hütten, zwanzig Frauen oder mehr, junge und alte, darunter auch meine Mutter und ihre vier Schwestern, meine Großmutter und selbst die hundertjährige Urgroßmama. Sie alle lachen und schwatzen, während sie ihre Arbeit verrichten, Tortillas zubereiten, Hühner rupfen oder Gewänder weben. Wir Kinder, die in einiger Entfernung spielen, brauchen nicht einmal zu ihnen hinüberzusehen, um uns vollkommen sorglos zu fühlen. Die Stimmen der Frauen und die Geräusche ihrer Arbeit, ihr Lachen und der Geruch frischgebackener Maisfladen weben ein Netz von Lauten und Gerüchen in die Luft, das uns so fest und schützend umfängt, als ob wir in den Armen unserer Mütter geborgen wären. Bis heute«, sagte Ixnaay, »sehe ich, wenn ich mir Glück und Frieden vorzustellen versuche, unwillkürlich dieses Bild vor mir und höre diese Laute und glaube diese Düfte aus der Kindheit wieder zu riechen: die Frauen, wir Kinder, Arbeit, Spiel und Lachen im Dorf.«
Während dieser letzten Worte hatte sich eine so tiefe Traurigkeit in ihre Stimme geschlichen, daß Robert ein Brennen in der Kehle spürte. Er wollte ihren Arm berühren, zumindest ihre Hand drücken zum Zeichen des Trostes, aber nach dem, was im Tempel geschehen war (wenn auch nur in seiner Einbildung), wagte er nicht mehr, sie auch nur flüchtig anzufassen. Starr und fahl wie eine Kalksteinfigur saß er neben ihr, im Schatten des Tempels, auf dem First der Pyramide, wo zumindest hin und wieder ein matter Windzug die schwüle Luft bewegte. Vom Platz vor dem Palast her waren keine rituellen Gesänge mehr zu hören, nur noch die schroffen Kommandorufe der grauen Priester, und Ixnaay sagte: »Viele unserer alten Geschichten erzählen von den Zeiten, ehe die weißen Männer unsere Welt unterwarfen. Damals herrschten auch noch nicht der zornige Cha'ac und seine grauen Priester allein über die Städte und Dörfer der Maya, so wie heute Ajkinsaj als oberster Priester Cha'acs und zugleich als Herrscher von Kantunmak. In alter Zeit kümmerte sich vielmehr die Gesamtheit der Götter von Oxlahuntiku und Bolontiku, des dreizehnfaltigen Himmels und der neunfaltigen Unterwelt, um die Geschicke der Menschen und ihrer Welt. Zu ihnen gehörte auch die junge Mondgöttin Ixquic, und obwohl diese goldene Zeit während meiner Kindheit schon fast zehn Katun zurücklag, wehte damals in unserem Dorf noch immer ein wenig der Geist Ixquics. Sie ist die Göttin der Frauen, der Heilkunst und der Liebe, und ihr Geisttier ist die Häsin, die unserem Dorf ihren Namen gab. Natürlich lebten auch in Ixt'u'ulchac zahlreiche Männer, und nach außen hin verehrten auch wir einzig den grimmigen Wetter-und Flußgott, der nach alter Prophezeiung über die Welt der Maya herrschen wird, bis die fahlhäutigen Invasoren wieder verjagt sein werden. Aber diese Prophezeiung kennst du ja sicher schon«, sagte Ixnaay und berührte flüchtig seinen Arm, so daß Robert zusammenzuckte.
Tatsächlich sei Ixt'u'ulchac aber noch in ihrer Kindheit, fuhr sie fort, ein Dorf der Frauen gewesen, in dem Ixquic sehr viel inniger verehrt wurde als Cha'ac und das insgeheim von einer weisen Frau regiert wurde, Ixtz'iib', der obersten Priesterin Ixquics. »Gewiß gab es bei uns im Dorf auch eine Priesterschaft Cha'acs«, sagte Ixnaay, »aber Cha'ac ist eine Gottheit für die Männer. Ein zeugender und zürnender Gott, jähzornig seit jeher, aber grimmig verfinstert, manche meinen sogar, von Schmerz und Haß verblendet, seit die weißen Invasoren auch noch Tayasal erobert haben,
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