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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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der Mestize gesprochen, zu verwirrt fühlte er sich, um überhaupt noch deutlich unterscheiden zu können, was Wirklichkeit war, was Täuschung oder Phantasie. Argwöhnisch spähte er um sich, in der Düsternis war kaum etwas zu erkennen. Jedoch war er nur allzu bereit zu glauben, daß sie wahrhaftig hier in der Kammer war, heimlich in den Palast eingedrungen, Ajkinsaj und seinen überall lauernden Schergen zum Trotz.
    Still lag er da, seinem eigenen Atem lauschend. Vor dem Eingang hörte er ihre Wächter miteinander murmeln, vergeblich versuchte er herauszufinden, wie viele verschiedene Stimmen es waren. Im Grunde war es ihm auch gleich. Er dämmerte dahin, ungewiß, wie lange Zeit, im Strom des Halbschlafs treibend. Auf einmal war ihm, als ob sie wahrhaftig bei ihm wäre. Deutlich glaubte er ihre Silhouette zu sehen, ihren Kopf, der sich von der Seite her über ihn neigte, das herabfallende Haar und darin schimmernd den silbernen Mond. Dann fühlte er schon ihren Atem, der über seine Wange strich, als sie mit leiser, melodischer Stimme zu sprechen begann.

5
     
     
    »Du mußt dich schonen, bleib ruhig liegen und höre mir einfach nur zu. Was ich dir über das Dorf me iner Kindheit und unsere elende Pension in Belize Town erzählt habe, ist alles nur allzu wahr. Und doch ist es noch nicht die ganze Wahrheit, wie ja selbst zwei Liebende ein halbes Leben benötigen, um einander wahrhaftig zu kennen und zu verstehen. Und was wären wir beide anderes als Geliebte, Winikuj, mein Mondgeliebter, von den Göttern, dem Schicksal, den Gewalten füreinander bestimmt?«
    Hatte sie wahrhaftig diese süßen Worte in sein Ohr gesungen, oder waren es doch nur Gaukelspiele seiner überreizten, sehnsuchtsvollen Phantasie?
    »Ich bin eine Wanderin zwischen den Welten, Robert, in mehrerlei Welten erfahren und in keiner wirklich zu Hause. Klingt das nicht ein wenig auch wie du?« Ihr Atem, stockend, dann pustend, als sie leise auflachte, direkt neben seinem Ohr.
    »Vor einem Katun, einem Jahr zwanzig, wie man es nennen müßte, lange nachdem Tayasal in die Hände der Spanier gefallen war, schworen sich einige Frauen unseres Volkes, das unaufhörliche Blutvergießen endlich zu unterbinden. Nach dem Untergang von Ta yasal hatte das Töten und Schlachten erst richtig begonnen, mit grausamen Kriegszügen der Spanier und später der Briten gegen unsere Krieger und ebenso blutigen Aufständen der Maya gegen ihre verhaßten neuen Herren. Jahr um Jahr wurden Tausende unserer jungen Männer von den weißen Soldaten niedergeschossen oder in den Silberminen und Holzfällerlagern auf gräßliche Weise zu Tode gebracht. Jahr um Jahr übten unsere Krieger, aufgepeitscht von den Priestern Ajkinsajs, blutige Rache. Sie zettelten Aufstände an, überfielen Militärposten, töteten jeden Kaziken, der es gewagt hatte, sich den weißen Eindringlingen zu unterwerfen. Ihr Kampf war gerecht, o gewiß, denn dies alles hier war unser heiliges Land, die Wälder unserer Ahnen, die Berge und Gewässer unserer Götter, ehe die Konquistadoren kamen. Und doch war es ein aussichtsloser Kampf, denn die Ankunft der fahlhäutigen Eroberer hat unsere Welt, wie sie einmal war, Mayab, die dreiundzwanzigste Welt unserer Schöpfung, unwiederbringlich zerstört. Verstehst du das, mein Winikuj?«
    Er bejahte, leichtfertigerweise, zumindest schien es ihm so. Dabei verstand er überhaupt nicht, worauf sie hinauswollte, warum sie ihm das alles mit eindringlicher Flüsterstimme erzählte. Er verstand nur, daß sie bei ihm war, so nah, daß er ihre Haut roch, ihren Atem auf seinem Gesicht spürte, die Wärme ihres Körpers fühlte.
    »Viele Katun, bevor die Konquistadoren unser Land eroberten, hatten unsere Seher vorausgesagt, daß und wann einige hundert bärtiger, bleichhäutiger Männer in schwimmenden Häusern unsere Gestade erreichen würden. Die Propheten bezeichneten sie als Götter, und sie sollten in gewisser Weise recht behalten: Wie die Unterweltgötter von Xibalbá schritten die totenäugigen, leichenfahlen Eroberer durch unser Land und säten Krankhe it, pflügten Verderben und ernteten Gier, Heuchelei und Verrat. Vor allem aber, und das war ärger, göttlicher, unwiderruflicher als all ihre anderen Taten, zerschlugen sie den Kreislauf der Schöpfung, der uns in alter Zeit immer wieder zu unseren Ursprünge n zurückgeführt hatte, wie eine Sippe von Wanderern, die nach langer, kreisförmiger Reise stets aufs neue ihren Ausgangspunkt erreichen.«
    Er lauschte ihren

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