Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
Vom Netzwerk:
Worten, und abermals mußte er lächeln: Die Grotte von Chul Ja' Mukal kam ihm in den Sinn, der unterirdische See, der ihn mit sich gerissen hatte, wieder und wieder im Kreis. Auch dort hatte sie hoch oben in einer Nische gestanden und auf ihn herabgesehen, sie selbst oder ein Bildnis ihrer silbernen Göttin, aber nun war sie zu ihm herabgestiegen, eine wunderschöne Frau aus Fleisch und Blut.
    »Mit der Ankunft der fahlhäutigen Invasoren hat eine andere Zeit begonnen, im wahrsten Sinn des Wortes. Wie eines ihrer schwimmenden Häuser haben sie damals unsere ganze Welt in den geradlinigen, einsinnigen Fluß ihrer Zeit gestoßen, der uns seither mit sich reißt, Jahr um Jahr, Katun um Katun, uns immer weiter von unserer Herkunft entfernend. Früher einmal lag unsere Welt an den Ufern eines runden Sees mit kreisförmiger Strömung, die uns stets wieder von der Zukunft in die Vergangenheit und von dort aufs neue im Kreis führte. Heute aber können kein Ajkinsaj und keine sechsmal zwanzigtausend seiner Krieger uns jemals in die alte Welt unserer Götter und Ahnen zurückbringen: Die heilige alte Welt der Maya liegt fünfhundert Jahre stromaufwärts am reißenden Fluß der Zeit.«
    Draußen das Gemurmel der Wächter. Und wenn sie auf einmal hereinstürmten, sie hier drinnen fanden, was dann? Er wollte auffahren, sie bedrängen, diesen gefährlichen Ort zu verlassen, aber es gelang ihm nicht, wie eine steinerne Säule, wie ein gefällter Baum lag er neben ihr in der Düsternis. Ihre Lippen vibrierend nah an seinem Ohr, ihre Hände, die wie in Gedanken über seinen Arm, seine Schulter fuhren, ein leises Rascheln erzeugend. Und er erschauerte unter den Hunderten Papierstreifen voller Blut und Glyphen, die jeden Zoll seiner Haut bedeckten.
    »Anfangs waren es kaum ein Dutzend Mayafrauen, die sich gegen die Welt der Männer, des Kampfes und des Tötens verschworen. Zu ihnen gehörte auch meine Mutter, die niemals vergessen konnte, was damals in unserem Dorf geschehen ist. Sie trafen sich heimlich in ihren elenden Behausungen in Belize Town, Heilerinnen und einstige Priesterinnen der Mondgöttin Ixquic, die seit ältester Zeit auch als Göttin der Liebeskunst gilt.«
    Ihre Finger auf seiner raschelnden Brust, so daß ihm der Atem stockte. Liebeskunst?
    »Ihr Plan war so einfach wie tollkühn: Sie beschlossen, die Machthaber unseres eigenen Volkes, die oberen Priester und Krieger aus dem innersten Kreis um Ajkinsaj, ebenso wie die höchsten Beamten und Offiziere der Briten fortwährend zu belauschen und so zu beeinflussen, daß sie auf Kriege, Aufstände, blutige Maßnahmen möglichst verzichteten. Hierfür griffen wir auf die Liebeskünste und Trancetechniken zurück, die im Kultus der Göttin Ixquic seit ältester Zeit überliefert sind.«
    Ihre Hand noch immer auf seiner raschelnden Brust, tastend, streichelnd, als ob sie mit den Fingern im Finstern die blutigen Glyphen entzifferte. Wir? dachte er. Ihr leises Lachen, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Oder ereignete sich all das, ihr Wispern im Düstern, ihre Finger, leicht wie Vogelfedern auf seinem Körper, doch nur in seiner Phantasie?

6
     
     
    »Ich war noch keine fünfzehn Jahre, als meine Mutter mich eines Abends aufforderte, mit ihr zu kommen. Sie trug eine festliche Tunika, silberfarben, geschmückt mit Bildern des Mondes und einer schimmernden Häsin, die ich noch nie an ihr gesehen hatte. Eine geschlossene Kutsche erwartete uns am Kai und brachte uns nach Fort George, in ein geräumiges Holzhaus in der Cork Street. Lomxitil, offene Messerwunde, so nennt sich der Geheimbund der Mayafrauen, und dort, in dem Haus mit der typisch britischen Veranda, pflegten meine Mutter und die anderen Mayafrauen, gekleidet wie Priesterinnen Ixquics, die hohen Beamten und Offiziere des britischen Gouverneurs zu empfangen.«
    Ein lautes Stöhnen, fast schon ein Aufschrei, von der anderen Seite seines Lagers: Henry? Was bekümmerten den Burschen Ixnaays Worte, die ihm doch kaum begreiflich sein konnten? Oder war Henry verletzt, hatte er etwa vor Schmerzen aufgestöhnt?
    Ixnaays Hände, beide nun, auf seinem Bauch, seinen Beinen, tupfend, tastend, streichend. Doch er empfand keine Begierde, spürte nur einen süßen Schauder und hörte leises Rascheln, überall dort, wo ihre Finger ihn vogelleicht streiften.
    »An jenem Abend wurde ich eine der Frauen von Lomxitil. Eine Priesterin der Liebe, und ich lernte viel in den fast zehn Jahren, die seither vergangen sind. Ich lernte deine

Weitere Kostenlose Bücher