Im Tempel des Regengottes
dagegen siehst du, auf welch wundersamen Barken die Priesterinnen Ixquics damals durch den Himmel segelten.«
Sie deutete auf ein Gebilde, das Helen auf den ersten Blick wahrhaftig wie ein Boot oder schmales Floß erschien, auf dessen Mitte rittlings eine menschliche Gestalt saß. Durch den harmlosen Augenschein ermutigt, sah sie genauer hin und fuhr abermals zusammen: Das Boot war ein kräftig gebauter, gänzlich nackter Mann, der rücklings durch den Kosmos trieb, auf seiner Mitte reitend eine Frau mit üppiger Büste und aufgelöstem Haar.
»Sieh nur hin«, sagte Ixnaay, »der Glaube unserer Ahnen war einfach und weise. Was wir Himmel nennen, ist nur so zu erreichen: indem Frau und Mann, die weibliche und männliche Hälfte, sich voller Liebe und Leidenschaft vereinigen. In alter Zeit galten Männer und Frauen daher gleich viel, und im Zweifel gab die sanftere Weisheit der Weiber den Ausschlag. Und zum Äußersten, dem kriegerischen Schlachten, kam es so gut wie nie.«
Wie zum Beweis tippte sie auf einen weiteren Himmelskörper. Widerwillig sah Helen den kakaobraunen Planeten näher an, der sich als Knäuel aus zwei menschlichen Figuren entpuppte, Mann und Frau, einander so innig umschlingend, als kauerten sie in einer engen, umschließenden Höhle.
»Eindrucksvoll, in der Tat.« Helen mußte sich räuspern, ihre Stimme klang brüchig. Gewaltsam riß sie sich von der eigentümlichen Himmelskarte los und wandte ihr sicherheitshalber den Rücken zu. Noch immer fühlte sie sich erhitzt, das Blut pulste ihr rascher als gewöhnlich durch die Adern. Aber sie würde sich von Ixnaay nicht noch einmal wie eine Fadenpuppe lenken lassen, beschloß sie, was auch immer die Ältere mit der verwirrenden Vorführung in diesem Tempelsaal bezwecken mochte. »Natürlich stimme ich dir zu«, fuhr sie fort, da Ixnaay sie nur schweigend ansah, »daß manches in unserer Welt besser wäre, in Fort George ebenso wie hier in der Wildnis, wenn die Männer nicht immer allein regieren wollten: Das läuft bei ihnen wohl allzu schnell auf Kanonen und Kriegsgeschrei hinaus. Aber deine Predigt hat trotzdem einen schwachen Punkt, liebe Ixnaay. Und dieser schwache Punkt bist du selbst.«
Wieder hielt sie einen Augenblick inne, abgelenkt durch den pochenden Schmerz in ihrem Fuß. Ixnaay sah sie unverwandt an, doch es schien Helen, daß sie ihr kaum mehr zuhörte. Ihr Gesicht war fahl, die Augen hatte sie zusammengekniffen, als ob nicht sie, Helen, sondern Ixnaay an einer schmerzhaften Verletzung litte. »Wenn der Krieg der Wahnsinn der Männer ist«, fügte sie dennoch hinzu, »worin liegt dann wohl der Irrsinn - oder zumindest der Irrtum - von Frauen wie dir? Was du und deine Mitverschwörerinnen an offener Gewalt und Blutvergießen vermeidet, das wiegt ihr, will mir scheinen, durch Falschheit und Lüge, Verwirrung und Erpressung zu einem guten Teil wieder auf.«
Unter diesen Worten war Helen zurück zum Altar gehumpelt und hatte sich eben auf dem Mondstein niedergelassen, ihren schmerzenden Fuß vorsichtig mit einer Hand reibend, als Ixnaay vor ihren Augen mit einem erstickten Seufzer zusammenbrach.
5
Was für ein abgeschmacktes Schmierentheater, dachte Robert, aber es waren nur Worte, ungreifbar. Er warf seinen Zigarrenstummel zu Boden, neben Paul, aus dessen Hinterkopf Blut sickerte, in dünnem Rinnsal durch sein kupferrotes Haar. Doch es war zu spät, das zumindest ahnte er, die Zigarren schienen tatsächlich berauschende Substanzen zu enthalten, so daß er nicht länger entscheiden konnte, welche der Gestalten und Geschehnisse, Gerüche und Geräusche, die er um sich herum wahrzunehmen glaubte, dem Traum angehörten und welche der Realität. Wieder und wieder sah er um sich, und es schien ihm, als ob beide Welten sich immer rascher, immer sinnverwirrender vermengten, wie Schlieren unverträglicher Farben, ineinander verwirbelt in einem Wasserglas.
Aufs neue erklangen die unsichtbaren Trommeln, und Robert sah einen Moment lang angespannt zu dem Götterkopf und den verstümmelten Opfern hinüber. Aber der Anblick war zu grauenvoll, und so wandte er sich wieder ab und schaute an sich herab, seiner äußeren Gestalt, die ihm gänzlich fremd schien und zugleich auf traumhafte Weise vertraut. Vom Hals bis zu den Fußknöcheln hinab war sein Leib noch immer kalkweiß bemalt und mit Papierstreifen umwunden und beklebt, auf denen Blutflecken und Glyphen in buntem Wirrwarr prangten, Dolchzeichen, Vasenschädel, glotzäugige Idole, das
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