Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
Vom Netzwerk:
abzeichnete, »führt übrigens geradewegs ins Freie, zu einem verborgenen Ausgang am Ufer des alten Flusses.«
    Während Helen sich noch fragte, warum Ixnaay ihr all das erzählte, winkte die India sie näher zu sich heran und sprach bereits weiter. »Vier Tagesreisen flußabwärts mit dem Kanu«, sagte sie, »liegt das Dorf unserer Kindheit, Ixt'u'ulchac. Es ist ein Weg, den heute kaum noch jemand kennt, auf immer schmäleren Flußarmen, durch immer engere Windungen und Verzweigungen, geleitet von geheimen Zeichen in Sumpf und Dickicht: Kerben in Baumstämmen, fratzenhaften Wurzelstöcken, die nur finden kann, wer im voraus weiß, wonach er sucht. Es ist eine andere Welt«, fuhr Ixnaay nach einer kurzen Pause fort, indem sie wie entrückt über Helen hinwegsah, »nie werde ich sie vergessen, niemals verwinden, daß wir von dort wegge hen mußten. Unser Dorf lag auf einem Hügel, gesäumt von einem Wall aus Buschwerk, Zapote-und Blauholzbäumen, erinnerst du dich?« Wieder nahm sie Helens Arm, und zum ersten Mal fiel Helen auf, wie erschöpft Ixnaay wirkte, wie grau ihr Gesicht, wie schwer sie sich auf ihren Arm stützte.
    »Dahinter, zehn Schritte unter dem Hügel, begann schon die Wäßrige Erde«, sagte Ixnaay, ohne auf Helens beunruhigten Blick einzugehen, »dreißig Fuß tiefes Moor, in dem alles versank, was nicht fliegen oder schwimmen konnte oder gewichtlos wie Libellen war. Siehst du es wieder vor dir, Schwester: das endlose Tal um unseren Hügel herum, gefüllt mit glucksendem, murmelndem Moor, ein warmer, süßlich riechender Schoß, aus dem unablässig Leben quoll: Fische in Millionenscharen, Frösche, Kröten, Quappenschwärme, Wolken von Moskitos? Mächtigere Baumriesen, als aus der Wäßrigen Erde emporwuchsen, habe ich an keinem anderen Ort je gesehen. Die gefiederten Freunde in ihren Wipfeln: Quetzal und Arakanga, Tukan und Kolibri. Und dann die Spinnäffchen, die wir alle beim Namen riefen und die uns aus Schabernack mit Nüssen bewarfen - weißt du noch, Ixkatik? Die Schreie der Brüllaffen im Morgengrauen, und da erwachten alle Vögel im ganzen unendlichen Wald und begannen zu singen, alle, alle auf einmal, während groß und golden die Sonne aus der Wäßrigen Erde aufstieg?«
    Sie hielt inne und fuhr sich mit der Hand über die Augen, als erwache sie aus einem Traum. »Eine andere Welt, wie gesagt«, erklärte sie und versuchte sichtlich, in den früheren munteren Ton zurückzufinden. »Aber ich wollte dir die heiligen Bilder zeigen, aus der hohen Zeit des Mondgöttinnenkultes von Kantunmak. Schau nur.«
    Sie traten vor das Wandgemälde, eine Darstellung des Nachthimmels, wie Helen nun erkannte. Der Hintergrund war zu einem matten Grau verblaßt, in dem nur hier und dort noch tintenschwarze Flecken schwammen. Sterne und Planeten in allen Größen übersäten diesen Himmel, und obwohl auch die meisten Gestirne stark verblichen waren, ging von ihnen ein goldenes Leuchten aus, wie Helen es nie zuvor bei einer Himmelsdarstellung gesehen hatte.
    Sie faßte einzelne Sterne schärfer in den Blick, verwundert über ihr warmes Strahlen. Tatsächlich waren alle diese Sterne so gemalt, als ob es Lebewesen wären, sinnliche Körper, dachte sie, empfindsame Geschöpfe, die es in der Weite des Alls zueinander drängte, die ihre Strahlenarme reckten, ihre fleischigen Sternenleiber einander entgegenschoben, um sich im nächtlichen Himmel zu vereinigen. Es war ein wollüstiger Kosmos, dachte Helen, die mit steigendem Interesse einen größeren Himmelskörper in Augenschein nahm und auf einmal bis unter die Haarwurzeln errötete.
    »Nun, das ist wohl recht drastisch«, sagte Ixnaay, die ihrem Blick gefolgt war. »Ein sonderbarer Stern, mit höchst eigenartigen Strahlen. Aber es ist nichts Verderbtes oder unzart Berechnendes dabei«, fügte sie hinzu. »Und wenn du noch einmal hinsiehst, wirst du feststellen, daß dieser sonderbare Stern in der Himmelskarte unserer Ahnen genau dort steht, wo sich die Erde befindet.«
    Eine Erde, deren Leib eine gewaltige Vulva war, umkränzt von aufgerichteten männlichen Gliedern. Helen brachte es nicht über sich, den in triumphaler Fleischlichkeit schwellenden Stern nochmals in den Blick zu fassen, doch ebensowenig gelang es ihr, sich gänzlich davon loszureißen. So stand sie nur starr vor der fatalen Himmelskarte, halb gesenkten Kopfes und nahezu schielend.
    »Ajkinsaj berauscht sich an Leichnamen«, sagte neben ihr Ixnaay, »an Blutvergießen, Verstümmelung und Tod. Hier

Weitere Kostenlose Bücher