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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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über ihre Unterarme reibend, begann sie zwischen den Säulen auf und ab zu gehen. Wie schön sie ist, dachte Helen, wie hochgewachsen ihre Gestalt, wie anmutig ihre Bewegungen - kein Wunder, daß Mr. Thompson nur an sie denkt und kaum ein Auge für mich hat.
    »Wie mir heute früh zugetragen wurde«, sagte Ixnaay, »ist Sutherland vor zwei Wochen aus England zurückgekehrt. Er war sehr bestürzt über dein plötzliches Verschwinden und hat vor acht Tagen eine notarielle Urkunde unterzeichnet, mit der er dich zu seiner rechtmäßigen Tochter und zur Alleinerbin von Sutherland House erklärt. Wenn du sein Angebot annimmst, Helen, werden sich dein und Sutherlands Leben von Grund auf verändern - wenn auch in anderer Weise, als du wahrscheinlich glaubst.«
    Helen starrte sie an, aus weit geöffneten Augen, in denen noch immer Tränen brannten, aber auf einmal schienen es ihr Tränen des Glücks. Aufs neue sah sie sich selbst, wie sie in ihrem Traum ausgesehen hatte: eine strahlende junge Dame, im cognacfarbenen Empirekleid nach allerneuestem Londoner Schick. Der Gouverneur persönlich hatte sie von ihrer Kutsche bis in den Ballsaal hinaufgeleitet, und die vornehmsten Ladys und edelblütigsten Gentlemen von Fort George hatten sich ehrerbietig vor ihr verbeugt. Und dieser Traum sollte nun wahr werden? Wie im Märchen vom armen Dienstmädchen, das sie vor Jahren einmal gelesen hatte: die verachtete Küchenmagd, die am Ende den Prinzen heiratet? Aber wer war in ihrem Fall der Prinz, überlegte sie dann, schon ein wenig ernüchtert: Robert Thompson? Auch den Galan aus ihrem Traum sah sie nun abermals vor sich, wie er hinter dem Wall aus Fräcken hervorgekommen war, am ganzen Leib mit Jaguarflecken bemalt. Sie mußte lächeln, noch immer unter Tränen, und da erst wurde ihr bewußt, daß Ixnaay längst weitersprach.
    »Ich gebe zu, daß mir Sutherlands überstürzter Schritt nicht behagen will, Helen, allerdings aus einem anderen Grund, als du anzunehmen scheinst. Noch hat er sich nicht öffentlich kompromittiert, da er wünscht, daß du als erste von seiner Absicht erfährst. Sutherlands Schicksal liegt also in deiner Hand, aber ich bezweifle sehr, daß du imstande bist, die Konsequenzen zu überschauen. Wenn er sich öffentlich zu seiner Liebschaft mit einer India aus den Wäldern bekennen und wenn er das Kind dieser Affäre als seine Tochter und Erbin anerkennen würde - was wäre damit wohl erreicht?«
    Sie blieb vor Helen stehen, abermals erschauernd, dabei ging von den Fackeln eine erstickende Hitze aus. »Anstatt dich auf seine Höhe emporzuheben«, fuhr Ixnaay fort, »würde sich Sutherland eigenhändig in die Tiefe stoßen und alles zum Einsturz bringen, was ihn und Sutherland House bisher ausgemacht hat: seinen Namen und seinen Ruf, seinen einflußreichen Posten in der Gouvernementverwaltung, seine Macht und bald auch sein Vermögen. Denn Sutherland ist nicht annähernd so reich, wie du vorauszusetzen scheinst: Von den Handelsgeschäften abgeschnitten, die er aufgrund seiner bisherigen Stellung regelmäßig mit gewissen Gentlemen abwickelt, wäre er schon in wenigen Monaten ruiniert und könnte sich mit seiner neugewonnenen Tochter allenfalls nach Wales zurückziehen, wo er ein kleines Landgut in den Bergen besitzt. Ob ihr beiden dort aber glücklich würdet, scheint mir mehr als zweifelhaft.«
    Sie sah Helen eindringlich an und beugte sich sogar ein wenig zu ihr hinab, um sie scharfer in den Blick zu fassen. Aber diesmal war es Helen, die zerstreut an der anderen vorbeisah, in eine imaginäre Ferne, in der soeben eine Traumgestalt namens Lady Helen Sutherland in tausend cognacfarbene Fetzen zerstob.
    »Im übrigen«, hörte sie Ixnaay sagen, »irrst du dich auch in einem anderen Punkt, Schwester. Gewiß hätten Mutter und ich niemals zugelassen, daß Sutherland väterliche Rechte über dich erhielt. Aber auch hier waren unsere Gründe nicht annähernd so niedrig und kaltherzig, wie du uns unterstellst. Denn es trifft zwar zu, daß Ixt'u'ulchac und seine Bewohner damals von Ajkinsajs Kriegern niedergebrannt und niedergemetzelt wurden. Aber James Sutherland verfolgte den gleichen Plan, wenn auch aus ganz anderen Gründen, Schwester: Er hatte einige Offiziere, mit denen er seit seiner Militärzeit in engem Kontakt stand, bereits dazu verpflichtet, unser Dorf zu überfallen, alle Bewohne r zu massakrieren und selbst die kleinen Kinder nicht zu schon, da Ixt'u'ulchac ›die Brutstätte einer mörderischen Seuche‹ sei.

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