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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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Glaub mir nur, Helen«, fügte sie hinzu, indem sie abermals begann, vor dem Altar auf und ab zu gehen, »wenn Sutherlands königliche Schlächter den Kriegern Ajkinsajs zuvorgekommen wären, so wärest du die erste gewesen, deren Kehle die Häscher durchtrennt oder deren Herz sie durchlöchert hätten. So eigentümlich es auch klingen mag, Schwester: Du solltest Ajkinsaj dankbar sein.«

7
     
     
    Ajkinsaj kniete vor dem steinernen Haupt Cha'acs, in der Linken das dampfende Mumienbein, mit seiner Rechten den Schenkelstumpf eines Mayajungen umklammernd. Leise erklangen die unsichtbaren Trommeln, jagend wie panischer Pulsschlag, und Ajkinsaj preßte das nebelfarbene Bein gegen den Stumpf. Ein Zittern überlief den Jungen, während der oberste Regengottpriester das Gallert des Beines wie einen graurosa Strumpf zollweise über den Schenkelstumpf zog und zugleich mit beiden Händen andrückte.
    Robert starrte auf die kräftigen Hände, und jede Bewegung schien ihm traumhaft verlangsamt und zugleich unwirklich hervorgehoben, als ob er sie durch Pauls Glas wahrnähme: die pressenden Hände, das Zucken des Schenkelstumpfs, über den die Hände unablässig strichen, bis der narbige Stumpf gänzlich vom grauen Gallert umschlossen schien.
    Indem Ajkinsaj mit einer Hand weiterhin den Stumpf des Jungen umklammerte, beugte er sich nach links und packte die Knochenflöte, die vor dem Riesenmaul des Regengottes am Boden lag. Er hob sie an seine Lippen und begann eine mißtönende Melodie zu pfeifen, wobei er die Flöte wieder und wieder über das graurosa Bein führte. Rasch schaute Robert zu den Opfern empor, die noch immer bei Bewußtsein schienen, mit lautlosen Fischmündern schnappend, und senkte gleich wieder seinen Blick, auf das nebelfarbene Bein, das im Takt der Flötenklänge zu zucken begann, als hätte Ajkinsaj ihm wahrhaftig Leben eingehaucht. Es kann und kann ja nicht sein, dachte er, auf die Flöte, die Hand, das bebende Nebelbein starrend, und dann plötzlich: Bin ich nicht gerade darum zu Grimaldi gegangen - damit er mich heilt, wie es diesem Jungen dort geschieht - mich gesund macht und mir hilft, es denen heimzuzahlen, die mich versehrt haben an Leib und Seele?
    Benommen dachte er darüber nach und beobachtete zugleich Ajkinsaj, der die Flöte sinken ließ und sich mit einer kraftvollen Bewegung erhob. Die Trommeln verstummten, im selben Moment wie der Klang seiner Knochenflöte, die er nun wie ein magisches Zepter in der erhobenen Rechten hielt.
    »Wandle auf und ab, denn du warst zerstückt und bist wieder heil.« Ajkmsajs Stimme hallte über den weiten First. »Danke Cha'ac, der mächtiger ist als Krankheit und Tod.«
    Mit großen Augen sah der Junge zu Ajkinsaj auf. Neuerlich setzten die Trommeln ein, mit gewaltigen, langsamen Schlägen, wie der Herzschlag eines weltengroßen Riesen. Ajkinsaj versetzte ihm einen Stoß, und der wundersam Geheilte taumelte durch die Gasse der grauen Priester, das angezauberte Bein unbeholfen voranwerfend, genau auf Robert und seine Gefährten zu.
    »Mummenschanz«, hörte er Stephen murmeln, »fauler Affenzauber, sonst gar nichts.« Aber Stephen schien seinen Worten selbst nicht zu trauen, seine Stimme klang schütter vor Entgeisterung und Angst.
    Robert warf den Gefährten einen raschen Blick zu, dann sah er wieder auf den Jungen, der weiter auf ihn zutaumelte, mit aufgerissenen Augen, das Gesicht vor Anstrengung und wohl auch vor Entsetzen verzerrt. Stephen schien gänzlich außer sich, dachte er, wie ein Spieler, der fast alles verloren hat und im Begriff ist, einen allerletzten, verzweifelten Einsatz zu wagen. Die Trommeln wummerten, und Robert versuchte sich auf das nebelfarbene Bein zu konzentrieren, aus dem noch immer Dampf auszutreten schien, aber es gelang ihm nicht festzustellen, ob der Junge tatsächlich auf beiden Beinen ging. Eher sah es so aus, als schnellte er einzig auf seinem gesunden Bein vorwärts, die gräuliche Zaubersäule mit einem Zucken seines Schenkelstumpfs voranwerfend, ohne sie mit seinem Körpergewicht zu belasten. Doch das mochte Täuschung sein, ebenso schien es ihm möglich, daß der Junge sein neues Bein bloß nach jedem Schritt so rasch wie möglich wieder entlastete.
    Der Gestank nach schmorendem Haar und siedendem Fleisch war noch beißender geworden, Dampf quoll zwischen Cha'acs Lippen hervor und waberte in fettigen Schwaden über den First. Nur am Rande nahm Robert wahr, daß Ajkinsaj weitere Gliedmaßen aus dem Maul seiner Gottheit

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