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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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vergingen, unablässig prasselten Steinbrocken herab, dann hatte Ixnaay den Rand des Altars erreicht. Sie schwang ihre Füße zurück auf den Boden, raffte die Tunika voller Tiegel vor dem Unterleib zusammen und taumelte auf Helen zu, die ihr eine Hand entgegenstreckte, sie endlich am Arm zu fassen bekam und zwischen die Säulen zog - keinen Lidschlag zu früh: Im nächsten Augenblick stürzte die Decke über dem Altar ein und begrub den heiligen Mondstein Ixquics unter einem Schwall aus Trümmern, Erde und zweitausendjährigem Staub.
    »Die Treppe hoch, schnell...« Ixnaay atmete stoßweise, gänzlich entkräftet, wie es Helen schien. »Am Ufer... Kanus... wir müssen fliehen... den Fluß hinunter... aber nur... mit ihm...«
    Sie taumelten die Treppe hinauf, einen schmalen Schacht voll Düsterkeit. So schwer stützte sich die India auf ihren Arm, daß Helens Fuß heftig zu schmerzen begann.
    »Was ist mit dir, Ixnaay? Dein Arm ist kalt wie Stein.«
    »Stelenzauber.« Die India blieb stehen und lehnte sich gegen die Treppenwand, gehüllt in eine Säule aus Sonnenlicht, das von weit oben in den Schacht fiel. Langsam beruhigte sich ihr Atem, so daß auch ihre Rede wieder flüssiger wurde. »Anfangs fiel mir gar nichts auf, nur ein taubes Gefühl in Fingern und Zehen... Ganz langsam kroch es in mir empor - in Hände und Füße, dann zollweise Arme und Beine hinauf.« Sie erschauerte so stark, daß die Tiegel und Amphoren in ihrer Tunika klirrten. »Ich schrieb es meiner Übermüdung zu, ich Närrin, und dachte mir weiter nichts dabei. Aber inzwischen weiß ich es besser: Das Messer, das Ajkinsaj gestern nach mir werfen ließ, war vergiftet.« Sie raffte ihre Tunika bis zum Nabel empor, einen mädchenhaft flachen Bauch und den schwarzen Busch auf ihrer Scham entblößend. »Hier, Schwester, sieh es dir an!«
    Widerstrebend sah Helen auf die Stelle, die Ixnaay mit dem Finger anzeigte. Auf ihrer rechten Hüfte verlief eine unscheinbare Wunde, fünf Zoll lang und schmal wie ein Bleistiftstrich.
    »Das Gift verteilt sich langsam im Körper«, sagte Ixnaay so tonlos, als ob sie bereits gänzlich versteinert wäre. »In unseren alten Schriften hieß es ›Stelenzauber‹. Aber es ist ein Gift, aus Pflanzen und Tierdrüsen gewonnen, das unsere Priester seit Jahrtausenden nach geheimen Rezepten mischen. Es wandert von außen nach innen und läßt nach und nach jede Faser ertauben und absterben. Für die Verzauberten«, fuhr sie fort,
    »fühlt es sich an, als ob sich ihre Körper Zoll um Zoll in kalten, leblosen Stein verwandelten.« Sie schwieg einen Moment, in dem nur das Kampfgetümmel über ihnen auf der Erde zu hören war. »Aber sag, Helen«, fragte sie endlich unter Tränen, »ist das nicht ein geistreicher Schachzug von Ajkinsaj: mich in die Steinfigur dort draußen vor dem Stadttor zurückzuverwandeln, nachdem ich ihm als fleischgewordene Ixkukul erschienen war?« Die Tränen liefen ihr nun über die Wangen, und wieder erschauerte sie so heftig, als krampfte sich schon die Hand des Todes um ihr Herz.
    »Aber du kannst doch die Macht des Giftes brechen?« fragte Helen. »Weshalb sonst hättest du die Amphoren aus dem Altar geholt?«
    Ixnaay verneinte mit den Augen. »Ich habe in den alten Schriften nachgelesen«, sagte sie leise, »die halbe Nacht, in den ältesten Feigenbastbüchern unserer Vorfahren. Gegen den Stelenzauber läßt sich nichts ausrichten, darin stimmen alle Priester und Heilerinnen überein. Wer von ihm befallen wird, stirbt spätestens am zehnten Tag.« Sie legte eine eiskalte Hand auf Helens Arm. »Jetzt aber geschwind, Schwester: Bring mich zum Flußufer, ich warte auf euc h bei den Kanus. Und dann sieh zu, daß du Robert findest!« Sie zwang sich ein Lächeln ab. »Ihr braucht einander, Ixkatik jetzt und ein Leben lang.«

9
     
     
    Niemand von ihnen hatte auch nur ein Wort gesprochen, seit sie im Wirrwarr des britischen Angriffs buchstäblich untergetaucht waren. Nicht Miriam, die ihnen voraneilte, eine Fackel in der einen Hand, mit der anderen ihre Nonnenkluft raffend. Nicht Stephen, der in geringem Abstand folgte, seinen massigen Leib gegen den Rücken ihrer Geisel pressend, die Rechte mit dem schwarzen Dolch an Ajkinsajs Kehle. Nicht Mabo und Ajkech, die Robert mitsamt seiner Trage hinterdrein schleppten. Auch Robert hatte bisher kein Wort des Protestes gewagt, verstört durch den jähen Umschwung, die Schrecknisse zuvor, die Explosion des riesigen Götterkopfes, eingeschüchtert auch durch

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