Im Tempel des Regengottes
Paul, der neben ihm die Treppe hinabstieg, den gezähnten Dolch in seiner Faust, dessen Schatten, riesenhaft vergrößert, neben ihnen über die Mauern gaukelte.
Endlos schraubte sich die Treppe vor ihnen in d ie Tiefe. Düsternis und Modergeruch. Fackellicht, das ihre Schatten an den stockfleckigen Wänden tanzen ließ. Unaufhörlich detonierten Schüsse, erklangen Schreie, durch die klafterdicken Mauern der Ka'ana gedämpft.
Stephen, Paul und Miriam mußten ihren Coup sorgfältig vorbereitet haben. Im Chaos der Kanonenschläge, Schreie, wirbelnden Trümmerstücke hatten einzig sie kühlen Kopf bewahrt, als ob weder britische Kanonenkugeln noch göttliche Steinbrocken ihnen etwas anhaben könnten. Sogar den furchtbaren Hieb auf seinen Schädel, der ihn vorhin niedergestreckt hatte, schien Paul gänzlich verwunden zu haben. Als Robert wieder zu sich gekommen war, hatte Paul eben Dolch und Knüppel aus dem Hüftgurt eines toten Priesters gezogen, ohne sich um die zerfetzten Leichname und verwundeten Priester zu bekümmern, die überall auf dem First der Ka'ana lagen, in Lachen leuchtend frischen Bluts. Zur gleichen Zeit hatte Stephen, ein gezähntes Messer in der Linken, Ajkinsaj gerüttelt, bis der oberste Regengottpriester zu sich gekommen war. Während unten in der Stadt weitere Kanonenkugeln abgefeuert wurden, Gewehrschüsse donnerten, Zornesrufe, Schmerzensschreie erschallten, hatte Stephen den Herrscher von Kantunmak hinter die mittlere Pyramide getrieben, wo ein schmaler Treppenschacht in die Tiefe führte. Offenbar waren auch die Kumpane, wie Robert selbst, zu dem Schluß gekommen, daß es dort einen verborgenen Durchgang geben mußte, eine nur für die höchsten Würdenträger bestimmte Treppe, auf der man vom Thronsaal ungesehen zum Dach des Palastes gelangte, aber auch tiefer hinunter, durch alle Stockwerke bis hinab in die Gewölbe unter der Ka'ana.
Nach einigen Dutzend Stufen stockte ihr kleiner Zug, und seine Träger setzten die Bahre auf einer schmalen Plattform ab. Robert hob den Kopf an, so weit die Riemen unter seinen Achseln es erlaubten, und spähte nach rechts. Ein Gang, der aufwärts zu einem Türloch führte, nur wenige Schritte weit. Dahinter ein Saal, aus dessen Tiefe mattes Licht drang. Einen Moment lang betrachtete er die unförmigen Umrisse, die sich im Vordergrund des Saals abzeichneten: ein grauer Koloß, unregelmäßig geformt wie eine Wolke, von zwei deutlich flacheren Erhebungen flankiert. Dann wurde ihm klar, daß sie sich hinter dem Thronsaal befanden, in dem Ajkinsaj sie vor drei Tagen empfangen hatte. Der Gang verband das Thronpodest mit dieser geheimen Treppe, so daß der Herrscher sich jederzeit unbemerkt von Stockwerk zu Stockwerk bewegen konnte.
Stephen und Paul berieten sich flüsternd, und Paul richtete sogar eine Frage an Ajkinsaj, in der Sprache der Maya, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten. Im ungewissen Schein der Fackel sah Robert, daß Stephen noch immer dicht hinter Ajkinsaj stand, einen Arm um den Hals des Herrschers gelegt und den Dolch an seine Kehle drückend. Paul wiederholte seine Frage, in dringlicherem Tonfall, und Ajkinsaj schüttelte behutsam den Kopf. Da versetzte Stephen ihm einen Stoß, und die Kolonne setzte sich neuerlich in Bewegung, die Treppe hinab, die sich unter der Plattform weiter ins Dunkel hinunterdrehte. Abermals wurde Roberts Trage angehoben, wieder sah er Mabos schaukelnden Rücken vor sich und hörte hinter seinem Kopf den keuchenden Atem Ajkechs, der den gekrakelten Frosch noch auf der Brust trug. Henry, dachte Robert, erfüllt von jähem Kummer - ob der kleine Mestize noch am Leben war?
Wieder huschten ihre Schatten, bizarr verformt und ins Riesenhafte vergrößert, über die Ruinenwände: Miriam mit strömendem Schattenhaar, dahinter die Umrisse von Stephen und Ajkinsaj, ihre massigen Leiber zu einem doppelköpfigen Monstrum verschmolzen. Weiterhin donnerten draußen Schüsse aus Gewehren und Mörsern, und mehrfach schien es Robert, daß die Mauern ringsum erzitterten. Wenn sie den Schatz erst an sich gerissen haben, dachte er, machen sie uns beiden den Garaus, Ajkinsaj ebenso wie mir. Bei diesem Gedanken empfand er überhaupt nichts, weder Angst noch Empörung, als ob jenes taube Gefühl sich von seinem Rückgrat ausgebreitet und ihn zur Gänze erfaßt hätte, an Leib, Geist und Seele. Auf der Bahre liegend, in schwankender Schräge zwischen Mabo und Ajkech, die ihn Stufe um Stufe hinabtrugen, wünschte er sich nur noch, daß es
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