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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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ziehen, einem lachhaft feierlichen Kleidungsstück von erstickender Enge und Schwere. Doch ihm blieb nur wenig Zeit, sein Mißgeschick zu bedauern, denn kaum hatten Mortimer und Climpsey ihre Stiefel wieder geschnürt, die alten Kleidungsstücke versorgt, ihr Gepäck wieder verschlossen, als die Kutsche mit einem Ruck anhielt.
    In der plötzlich eingetretenen Stille beugte sich Climpsey nach rechts, schob den Vorhang zur Seite und sah kurz aus dem Fenster. »Wir sind da«, sagte er, sonderbarerweise in gedämpftem Ton, als fürchte er, hier draußen im tiefsten Urwald belauscht zu werden.
    Mortimer packte seinen Seesack. »Aussteigen, Mr. Thompson, aber auf dieser Seite, bitte sehr.« Und er deutete zur Tür rechter Hand von Robert, auf die er auch seinen Seesack zuschob, dabei saß er selbst unmittelbar neben der anderen Tür.
    »Warum dort«, fragte Robert beunruhigt, »wo sind wir denn eigentlich?« Er beugte sich nach links, zu der Seite, vor der Mortimer ihn gewarnt hatte, und wollte eben die Tür aufstoßen, als sein Blick durch einen Spalt im Vorhang fiel.
    Vor Schreck stockte ihm der Atem. Sie befanden sich über einem lotrechten Abgrund, der fünfzig Schritte tief sein mochte, und die Kutsche stand kaum fußbreit neben dem Rand der Schlucht, so nahe, daß er ohne Mortimers Warnung unweigerlich ins Verderben gestürzt wäre. Aber warum sollten sie in so unwegsamer Gegend überhaupt die Kutsche verlassen?
    Er wollte es eben fragen, da reichte ihm Climpsey sein Fernrohr.
    »Es ist schon scharf gestellt«, sagte er. »Beugen Sie sich aus dem Fenster, Robert, und schauen Sie nach hinten. Was sehen Sie?«
    Zögernd nahm Robert das Fernrohr entgegen. Das metallene Gehäuse fühlte sich kühl an, unzählige Beulen und abgesplitterte Stellen im Lack bewiesen, daß es Climpsey schon häufig unter widrigen Umständen gedient hatte. Robert, dachte er, Climpsey hatte ihn Robert genannt, und vielleicht zum ersten Mal hatte er ernsthaft mit ihm gesprochen, ohne spöttischen Unterton.
    »Danke, Paul«, sagte er, wandte sich um, halb aufgerichtet, wie er es von Climpsey gesehen hatte, und schob sich bis zum Gürtel aus dem Kutschfenster.
    Schaurig klaffte unter ihm der Abgrund. Robert hatte nie unter Schwindelgefühl gelitten, doch bei dieser Aussicht in finstere Tiefe begann es in seinen Ohren zu brausen. Die Schlucht mußte noch tiefer sein, als er vorhin gedacht hatte, zweihundert Fuß oder mehr, ein lotrechter Felsspalt, an die zwanzig Schritte breit. Riesenhafte Bäume wuchsen aus dem Grund empor, schimmerndes Blauholz und Zapote mit turmdicken Stämmen, grau wie alter Mauerstein. Robert richtete das Fernrohr hinab in den Abgrund, und für einen Moment schienen ihm die ummauerten Bäume ein Sinnbild seiner eigenen Lage - gefangen in der Wildnis, bewacht von Climpsey und Mortimer, seinen Kerkerwärtern.
    Unsinn, schalt er sich dann aber, romantische Übertreibung, denn so arg war es noch lange nicht. Der Schlaf hatte ihm gutgetan, er fühlte sich gekräftigt, beinahe tatendurstig, jedenfalls nicht mehr so benommen wie vorhin, zu Anfang der Kutschfahrt, dachte er, indem er das Fernrohr nach hinten richtete, auf den Weg, den sie gekommen waren.
    Zunächst sah er nur Schlammspuren und mit Bracke gefüllte Schlaglöcher in bizarrer Vergrößerung, daneben das grüne Durcheinander des Dschungels, eine verworren gefügte, gleichwohl undurchdringliche Wand. Dann hob er das Fernrohr einige Zoll höher, zum Horizont hin, auf den der Fahrweg schnurgerade zulief, wie ein präziser Messerschnitt in einer ungeheuren, vor Hitze dampfenden Spinatpastete. Und da sah er sie, drei, vier, sieben Reiter, winzige Gestalten, noch in weiter Ferne, auf dem Fahrweg dahinjagend, lautlos, in einer Wolke aus Staub und aufspritzender Bracke, und wie er sie so beobachtete, durch Paul Climpseys verbeultes Fernrohr, halsbrecherisch aus dem Kutschfenster hängend, da erst wurde ihm bewußt, mit einem einzigen, ernüchternden Schlag, daß dies alles, die Schüsse und das Blut im Park des Gouverneurs, ihre Flucht, der Dschungel, die heranpreschenden Soldaten, kein Gaukelspiel seiner Phantasie, sondern unentrinnbare Wirklichkeit war.
    Er schob sich wieder in die Kutsche und reichte Climpsey das Fernrohr zurück. »Wie lange dauert es, bis sie hier sind?« fragte er, und bei diesen Worten begann sein Herz heftig zu klopfen.
    Eine Mücke hatte den Weg in die Kutsche gefunden und sirrte in rasendem Zickzack hin und her. »Eine Stunde, höchstens«, sagte

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